Bartimäus 02 - Das Auge des Golem
schlagartig.
»Das war nun schon die dritte Wachkugel«, seufzte Devereaux. »Bald haben wir keine mehr. Aber wie dem auch sei… hat jemand dazu eine Meinung oder irgendwelche neuen Erkenntnisse?«
Der Innenminister Mortensen stand auf und strich sich über das fettige Haar. »Wir müssen sofort etwas gegen diesen Dämon unternehmen, Sir. Sonst wird Gladstones Ruf in den Schmutz gezogen! Ist er nicht unser bedeutendster Staatsmann? Verdanken wir nicht ihm all unseren Wohlstand, unsere Privilegien, unser ganzes Selbstverständnis? Und wie stellt er sich der Öffentlichkeit jetzt dar? Als mordlustiges Knochengerüst, das durch unsere Stadt tobt und überall Tumult auslöst! Den Gewöhnlichen dürfte das nicht lange verborgen bleiben und unseren Gegnern im Ausland ebenso wenig. Daher schlage ich vor…«
Marmaduke Fry, der Außenminister, mischte sich ein: »Wir haben mehrere Fälle von Massenpanik zu verzeichnen, die kein noch so großes Aufgebot von Duvalls Polizeikräften verhindern konnte.« Er warf dem Polizeichef einen Seitenblick zu, worauf dieser zornig brummte.
»Dieses Geschöpf ist ganz offensichtlich gestört«, ergänzte die Informationsministerin Malbindi, »und wie Mortensen richtig sagt, macht das die ganze Situation nur noch peinlicher. Die sterblichen Überreste unseres Staatsgründers hüpfen über die Dächer, klettern Fahnenmasten hoch, tanzen in Whitehall durch die Straßen und, wenn wir richtig informiert sind, tollen sie Rad schlagend kreuz und quer über den Fischmarkt von Camberwell. Außerdem bringt der Bursche nach wie vor Leute um, wobei er völlig beliebig vorzugehen scheint. Es trifft vor allem junge Leute, Mädchen und Jungen, zwar meist nur Gewöhnliche, aber ab und zu auch bedeutende Persönlichkeiten. Er behauptet, er suche die ›beiden letzten‹, was immer das heißen soll.«
»Die beiden letzten Überlebenden der Grabräuberbande«, sagte Mr Fry, »wen denn sonst? Und einer von denen hat ihm den Stab gestohlen. Unser vordringlichstes Problem ist jedoch, dass die Gewöhnlichen wissen, wessen Gebeine sie da vor sich haben.«
Von weiter hinten ertönte Jessica Whitwells schneidende Stimme. »Gestatten Sie mir eine Frage. Handelt es sich zweifelsfrei um Gladstones Gebeine? Oder erlaubt sich da jemand einen schlechten Scherz?«
Miss Malbindi hob indigniert die Augenbrauen. »Es sind nachweislich seine. Wir haben die Gruft durchsucht, der Sarkophag ist leer. Glauben Sie mir, dort unten liegen jede Menge Tote, aber unser verehrter Staatsgründer ist ohne jeden Zweifel verschwunden.«
»Merkwürdig, oder?« Zum ersten Mal ergriff Mr Makepeace das Wort. »Der Wachafrit hat seine eigene Substanz in die Gebeine eingeschlossen. Wozu? Hat jemand eine Idee?«
»Das Wozu interessiert uns nicht«, sagte Mr Devereaux streng und schlug sich mit der Faust in die hohle Hand. »Es geht zuvorderst darum, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Das Ansehen unseres Landes steht so lange auf dem Spiel, bis wir dieses Geschöpf wieder losgeworden sind. Ich wünsche, dass es getötet wird und die Gebeine wieder in die Gruft verbracht werden. Alle führenden Staatsbeamten haben noch heute Nachmittag einen Dämon darauf anzusetzen. Und wenn ich ›alle‹ sage, meine ich ›alle‹! Die nachgeordneten Beamten haben bislang nicht das Geringste ausrichten können. Schließlich ist das Gerippe gewissermaßen tatsächlich Gladstone und verfügt über beträchtliche Macht. Auch die Sache mit dem Stab dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.«
»Richtig«, sagte Mr Fry. »Auf längere Sicht ist das wesentlich wichtiger. Vor allem jetzt, kurz vor dem Feldzug gegen Amerika…«
»Der Stab darf unter keinen Umständen in fremde Hände fallen. Wenn ihn die Tschechen in die Finger kriegen…«
»Allerdings.« Eine Pause trat ein.
»Entschuldigung.« Nathanael hatte der Debatte stumm und respektvoll gelauscht, doch jetzt hielt es ihn nicht länger. »Geht es etwa um Gladstones Amtsstab? Um den Stab, mit dessen Hilfe er Prag zerstört hat?«
»Freut mich, dass Sie doch noch geruhen mitzudenken, Mandrake«, erwiderte Mr Devereaux kühl. »In der Tat, es geht um ebenjenen Stab.«
»Das hieße, wenn wir die entsprechenden Worte der Macht wüssten, könnten wir ihn auf anderen Feldzügen einsetzen?«
»Wir – oder unsere Gegner. Wir wissen nicht, wo sich der Stab momentan befindet.«
»Wirklich nicht?«, vergewisserte sich Helen Malbindi. »Dieses… Gerippe, beziehungsweise der Afrit oder was das auch ist… hat
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