Bartimäus 02 - Das Auge des Golem
errichtet. Die Straße war nur wenig befahren, und von oben sah man nichts als Dächer und Giebel, sodass man fast den Eindruck hatte, mutterseelenallein über ein braunrotes Meer zu segeln. Nathanael ließ gedankenverloren den Blick in die Ferne schweifen.
Der Chauffeur war wie die meisten seiner Zunft von der wortkargen Sorte, und obwohl sich Nathanael alle Mühe gab, konnte er kaum etwas über die Katastrophe, die sich angeblich in der vorangegangenen Nacht ereignet hatte, aus ihm herausbekommen. »Mehr weiß ich auch nicht, Sir«, sagte der Mann, »aber heut Morgen war auf der Straße, wo ich wohne, ordentlich was los. Die Gewöhnlichen sind richtig in Panik, die waren total verängstigt. Ziemlich beunruhigend, das Ganze.«
Nathanael beugte sich vor. »Weshalb beunruhigend?«
»Es soll irgendwas mit einem Ungeheuer zu tun haben, Sir.«
»Mit einem Ungeheuer? Könnten Sie das etwas genauer erläutern? Doch nicht etwa ein großer, in Schatten gehüllter Steinmensch?«
»Keine Ahnung, Sir. Gleich sind wir an der Kathedrale. Diesmal halten die Minister ihre Sitzung dort ab.«
In der Westminster Abbey? Höchst unbefriedigt ließ sich Nathanael wieder in den Rücksitz sinken. Zu gegebener Zeit würde sich alles aufklären. Höchstwahrscheinlich hatte der Golem erneut zugeschlagen; dann würde man seinen Bericht über die Reise nach Prag sicher schon sehnsüchtig erwarten. Er ging noch einmal alles durch, was er in Erfahrung gebracht hatte, wog seine Erfolge gegen die Rückschläge ab, um einzuschätzen, ob er seinem Ansehen damit eher nützte oder schadete. Schwer zu sagen.
Auf der Habenseite konnte er verbuchen, dass er dem Gegner eindeutig einen entscheidenden Schlag versetzt hatte. Mit Harlekins Hilfe war es ihm gelungen, die Herkunft des Golempergaments festzustellen und es zu vernichten. Er hatte herausbekommen, dass der fürchterliche bärtige Mörder in die Sache verwickelt war und dass es einen noch unbekannten Hintermann gab, der, wenn man dem Söldner glauben durfte, schon damals vor zwei Jahren an der Lovelace-Verschwörung beteiligt gewesen war. Dass es einen solchen Hintermann gab, war eine wichtige Erkenntnis. Andererseits hatte Nathanael nicht herausfinden können, um wen es sich dabei handelte. Allerdings konnte man ihm das eigentlich nicht zum Vorwurf machen, denn nicht einmal der bedauernswerte Kavka hatte den Namen seines Peinigers gekannt.
Bei diesem Gedanken rutschte Nathanael nervös auf seinem Sitz herum, denn ihm fiel wieder ein, was er dem alten Zauberer so voreilig versprochen hatte. Kavkas Kinder, die tschechischen Spione, waren vermutlich noch irgendwo in England inhaftiert. In diesem Fall würde es ausgesprochen schwierig werden, ihre Freilassung durchzusetzen. Aber spielte das eigentlich noch eine Rolle? Kavka war schließlich tot! Der Alte hatte sowieso nichts mehr davon, da konnte Nathanael das Versprechen ebenso gut stillschweigend vergessen. Trotz dieser glasklaren Logik fiel es Nathanael nicht leicht, die Angelegenheit zu verdrängen. Er schüttelte ärgerlich den Kopf und wandte sich wieder wichtigeren Dingen zu.
Die Identität des Hintermannes war ein Rätsel, aber der Söldner hatte Nathanael einen wichtigen Hinweis geliefert. Sein Auftraggeber hatte genau gewusst, dass Nathanael nach Prag käme, und daraufhin den Mörder auf ihn angesetzt. Dabei hatte Nathanael seine Reise ziemlich überraschend angetreten und mit kaum jemandem darüber gesprochen.
Wer hatte nun wirklich darüber Bescheid gewusst? Nathanael konnte die Betreffenden an fünf Fingern abzählen. Er selbst, Whitwell natürlich (sie hatte ihn schließlich losgeschickt), Julius Tallow (er hatte an der bewussten Sitzung teilgenommen), dann noch der stellvertretende Außenminister, der Nathanael vor dem Flug letzte Anweisungen erteilt hatte (Whitwell hatte ihn gebeten, entsprechendes Kartenmaterial und Unterlagen bereitzuhalten)… und das war’s auch schon. Es sei denn…
Moment mal… Ein leises Unbehagen überkam Nathanael. Die Begegnung mit Jane Farrar im Außenministerium, als sie den Blendezauber benutzt hatte… Hatte er da irgendwas ausgeplaudert? Er konnte sich kaum noch erinnern… so sehr hatte ihm ihr Bann den Kopf verdreht… Es hatte keinen Zweck.
Trotzdem war die Zahl der Verdächtigen ausgesprochen klein. Nathanael knabberte an seinem Daumennagel. Ab sofort musste er besser aufpassen. Der Söldner hatte noch etwas erwähnt, nämlich dass sein Auftraggeber noch über andere Handlanger verfügte.
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