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Bartimäus 02 - Das Auge des Golem

Titel: Bartimäus 02 - Das Auge des Golem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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lachte dröhnend. »Der Zauberer schläft. Meine Zaubermacht ist größer als die seine und wird es immer sein. Aber die Nacht schreitet unerbittlich voran und bei Tagesanbruch muss ich mit meinen Brüdern, den Afriten, auf den Winden davonreiten. Komm in meine Arme, Geliebte! Lass in diesen kurzen Stunden, in denen ich noch Menschengestalt habe, den Mond Zeuge unserer Liebe werden, welche den Hass zwischen unseren Völkern überdauern soll bis in alle Ewigkeit.«
    »O Bertilak!«
    »O Amaryllis, du mein Schwan von Arabien!«
    Der Dschinn trat auf die Sklavin zu und riss sie an seine muskelbepackte Brust. Inzwischen schmerzte Kittys Hinterteil so unerträglich, dass sie auf ihrem Sitz herumrutschte.
    Nun setzten der Dschinn und das Mädchen zu einem komplizierten Tanz an, bei dem jede Menge Stoff flatterte und jede Menge Arme und Beine zappelten. Aus dem Publikum kam verhaltener Applaus, der das Orchester zu neuen Anstrengungen anspornte. Kitty gähnte ungeniert wie eine Katze, rutschte tiefer in ihren Sitz und rieb sich mit dem Handballen die Augen. Sie tastete nach der Papiertüte, klaubte die letzten gesalzenen Erdnüsse heraus, warf sie sich in den Mund und kaute lustlos.
    Mit einem Mal überfiel sie die Vorfreude, die sich immer vor einem neuen Auftrag einstellte, und bohrte sich ihr wie ein Messer in die Magengrube. Das war nichts Neues, sie hatte damit gerechnet. Aber die Langeweile angesichts dieses schier endlosen Theaterstücks legte sich wie eine Watteschicht darüber. Es mochte das perfekte Alibi sein, wie Anne gemeint hatte, aber Kitty hätte ihre Anspannung lieber draußen auf der Straße abgebaut, den Polizeistreifen ausweichend und immer in Bewegung, statt sich diesen grässlichen Kitsch anzuschauen.
    Auf der Bühne stimmte Amaryllis, das als Sklavin verkleidete Missionarsmädel aus Chiswick, soeben eine Arie an, in dem sie (zum x-ten Mal) ihre unsterbliche Leidenschaft für den geliebten Dschinn in ihren Armen kundtat. Dabei legte sie so viel Nachdruck auf die hohen Töne, dass sich das Haar auf Bertilaks Haupt kräuselte und seine Ohrringe heftig hin-und herpendelten. Kitty zuckte zusammen und musterte die verschwommenen Silhouetten vor sich, bis sie Fred und Stanley ausmachte. Die beiden schienen ganz gebannt und hielten den Blick starr auf die Bühne gerichtet. Kitty verzog verächtlich den Mund. Wahrscheinlich himmelten sie die schöne Amaryllis an.
    Solange sie dabei nicht alle Vorsicht vergaßen…
    Kittys Blick bohrte sich in die Finsternis zu ihren Füßen. Dort lag die Ledertasche. Der Anblick ließ ihren Magen schlingern; sie kniff die Augen zu und betastete instinktiv ihren Mantel, bis sie das Messer spürte und sich wieder beruhigte. Keine Panik… wird schon klappen.
    War es denn nicht endlich Zeit für die Pause? Sie sah sich in dem abgedunkelten Zuschauerraum um, zu dessen Seiten die Logen der Zauberer angebracht waren, mit üppig vergoldeten Schnitzereien und dicken roten Vorhängen ausgestattet, welche die dort Sitzenden vor den Blicken der Gewöhnlichen schützten. Doch sämtliche Zauberer der Stadt hatten das Stück schon vor Jahren gesehen, lange bevor es für die sensationslüsternen Massen freigegeben wurde. Deshalb waren die Vorhänge heute zurückgezogen und die Logen leer.
    Kitty sah auf ihre Armbanduhr, aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Bis zur Pause waren garantiert noch etliche herzzerreißende Abschiede, erbarmungslose Entführungen und freudige Wiedersehen durchzustehen. Und das Publikum würde jede Sekunde genießen. Wie die Schafe drängten sie Abend für Abend, Jahr um Jahr ins Theater. Inzwischen musste ganz London Die Schwäne von Arabien mindestens ein Mal gesehen haben, viele Leute sogar öfter, aber immer noch karrten tuckernde Reisebusse aus der Provinz neue Zuschauer heran, die vor Staunen über den schäbigen Prunk kaum den Mund zubekamen.
    »Liebling! Schweige still!« Kitty nickte zustimmend. Gar kein so übler Bursche, dieser Bertilak. Schnitt seiner Amaryllis mitten in der Arie das Wort ab.
    »Was hast du? Was spürest du, was ich nicht spüre?«
    »Pst! Kein Wort mehr! Uns droht Gefahr…« Bertilak wandte dem Publikum sein edles Profil zu. Er blickte nach oben, er blickte nach unten. Er schien etwas zu wittern. Es war mucksmäuschenstill. Das Feuer war heruntergebrannt, der Zauberer schlummerte; der Mond hatte sich hinter eine Wolke verzogen, kalte Sterne glitzerten am Himmel. Im Zuschauerraum hätte man eine Stecknadel fallen hören können.

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