Bartimäus 04 - Der Ring des Salomo
hochgewachsen und schlank. Das weiße Gewand reichte ihm bis auf die Füße. Sein Gesicht war lang und schmal, das Kinn kräftig, die Nase lang und gerade. Seine dunklen Augen funkelten im Lampenschein wie Juwelen. Er sah gut aus – nur war er ganz grau vor Müdigkeit und ein feines Netz von Fältchen zog sich über sein Gesicht, besonders um Augen und Mund. Sein Alter war schwer zu schätzen. Die Fältchen, die sehnigen Handgelenke, die runzligen Hände, die grauen Strähnen in dem langen, sonst schwarzen Haar – das alles deutete auf ein fortgeschrittenes Alter hin, obwohl seine Augen wach und lebhaft waren und seine Bewegungen jugendlich wirkten.
»Sag mir, wie du heißt, Mädchen«, forderte er Asmira auf, als sie ihm nicht antwortete. »Früher oder später musst du mir deinen Namen ohnehin verraten.«
Asmira kniff die Lippen zusammen und atmete tief durch. Das Zimmer, in dem sie sich befand, war zwar nicht klein, aber längst nicht so großzügig wie die anderen Räume des Palastes, die sie bis jetzt gesehen hatte. Die Schlichtheit der Einrichtung ließ es umso persönlicher wirken. Auf dem Fußboden lagen zwar gemusterte Teppiche, aber der Boden selbst war nicht aus Marmor, sondern aus dunklem Zedernholz. Die weißen Wände waren schmucklos. Es gab ein einziges Fenster, durch das man in die dunkle Nacht hinaussah. Neben dem Fenster standen Regale mit alten Schriftrollen, ein Schreibtisch war mit Pergamentblättern, Schreibfedern aus Schilfhalmen und Flaschen mit verschiedenfarbiger Tinte ausgestattet. Asmira musste an die Kammer über dem Schulungsraum in Marib denken, in der sie ihre ersten Beschwörungsversuche unternommen hatte.
Abgesehen von Bett, Schreibtisch und Lehnstuhl, ergänzten zwei schlichte Tischchen das Mobiliar. Sie standen gut erreichbar links und rechts vom Stuhl des Fremden.
In der Wand war ein Durchgang, aber Asmira konnte vom Bett aus nicht erkennen, wo er hinführte.
»Ich warte!« Der Fremde schnalzte mit der Zunge. »Hast du vielleicht Hunger? Willst du etwas essen?«
Asmira schüttelte den Kopf.
»Besser wär’s. Du hast einiges durchgemacht. Trink wenigstens einen Schluck Wein.«
Er deutete auf den Tisch zu seiner Rechten. Darauf standen einfache Steingutschalen, eine mit Obst, eine mit verschiedenen Brotsorten, in einer dritten türmten sich Meeresfrüchte – Räucherfisch, Austern und Tintenfischringe.
»Die Tintenfischringe sind besonders lecker«, verkündete der Mann und schenkte einen Becher Wein ein. »Aber trink zuerst etwas.« Er beugte sich vor und hielt Asmira den Becher hin. »Du hast nichts zu befürchten. Diesen Wein habe ich nicht verzaubert.«
Asmira sah ihn verdutzt an. Dann riss sie vor Staunen und Angst die Augen auf.
»Ganz recht«, sagte der Mann. »Ich bin es. Vielleicht sehe ich meinen Wandgemälden nicht mehr besonders ähnlich, aber ich bin es wirklich. Aber nun nimm bitte den Becher und lass es dir noch ein letztes Mal gut gehen. Du wirst wohl nicht lang genug leben, um einen zweiten zu genießen.«
Benommen gehorchte Asmira. Seine Finger waren lang, die Nägel gefeilt und poliert. Am kleinen Finger hatte er eine rote Schwiele.
Asmira sagte stockend: »Der Ring…«
»Hier ist er.« Der Mann deutete beiläufig auf den Tisch zu seiner Linken. Auf einem silbernen Teller lag ein goldener Ring mit einem schwarzen Stein. Asmira schaute erst den Ring an, dann den König und dann wieder den Ring.
»Wegen so eines kleinen Dingelchens hast du solche Anstrengungen unternommen.« König Salomo lächelte, aber es war ein gezwungenes Lächeln. »Du hast es weiter gebracht als die meisten, aber du wirst das gleiche Ende nehmen. Hör zu – ich habe noch eine Frage an dich, und du wirst gefälligst dein verkniffenes Mündchen aufmachen und sie beantworten, sonst… sonst muss ich leider meinen Ring bemühen und dann… Tja, was glaubst du wohl, was dann passiert? Du wirst mir in jedem Fall antworten, bloß bist du dann womöglich nicht mehr so hübsch und munter wie jetzt noch. Ich sage so etwas nur ungern, aber es ist spät, ich bin müde und offen gestanden ein wenig überrascht, dich in meinen Privatgemächern vorzufinden. Also trink einen ordentlichen Schluck Wein und streng dich an. Du bist hergekommen, um mich zu töten und den Ring zu stehlen, so viel ist mir klar. Aber das genügt mir noch nicht. Zunächst einmal: Wie heißt du?«
Asmira schätzte die Entfernung vom Bett zum Stuhl ab. Aus dem Stand hätte sie einen großen Satz gemacht, seinen
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