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Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Melville
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Voraussetzung baute ich alles auf, was ich zu sagen hatte. Je mehr ich über mein Vorgehen nachdachte, desto mehr war ich entzückt davon. Trotzdem hatte ich am nächsten Morgen beim Erwachen Zweifel – irgendwie hatte ich die Dünste der Eitelkeit ausgeschlafen. Die Stunde gleich nach dem Erwachen am Morgen gehört zu den nüchternsten und weisesten eines Mannes. Mein Vorgehen erschien mir so klug wie zuvor – doch nur in der Theorie. Wie es sich in der Praxisbewähren würde – da steckte der Haken! Es war wirklich ein ausgezeichneter Gedanke, Bartlebys Fortgang vorauszusetzen; doch schließlich war die Voraussetzung nur meine eigene und nicht die Bartlebys. Der entscheidende Punkt war nicht, ob ich es vorausgesetzt hatte, daß er mich verlassen würde, sondern ob er es lieber mögen würde, mich zu verlassen. Er war mehr ein Mann des Liebermögens denn der Voraussetzungen.
    Nach dem Frühstück ging ich in die Stadt und erwog die Wahrscheinlichkeit des Für und des Wider. Bald dachte ich, es würde sich ein kläglicher Fehlschlag ergeben und ich würde Bartleby wie gewöhnlich leibhaftig in meiner Kanzlei antreffen; bald erschien es mir sicher, daß ich seinen Stuhl leer vorfinden würde. Und so schwankte ich hin und her. An der Ecke des Broadway und der Canal-Street sah ich eine ziemlich erregte, in ernstem Gespräch begriffene Gruppe von Menschen stehen.
    »Ich wette – nicht!« sagte eine Stimme, als ich vorbeiging.
    »Er geht nicht? – abgemacht!« sagte ich, »setzen Sie Ihr Geld!«
    Unwillkürlich steckte ich die Hand in die Tasche, um mein eigenes hervorzuholen, als mir einfiel, daß ja Wahltag war. Die Worte, die ich mitgehört hatte, bezogen sich nicht auf Bartleby, sondern auf den Erfolg oder Nichterfolg eines Kandidaten für das Bürgermeisteramt. In meiner angespannten Gemütsverfassung hatte ich mir gewissermaßen eingebildet, der ganze Broadway nehme an meiner Aufregung teil und debattiere über dieselbe Fragemit mir. Ich ging weiter und war sehr froh, daß der Straßenlärm meine zeitweilige Geistesabwesenheit verborgen hatte.
    Wie ich es beabsichtigt hatte, war ich früher als sonst vor der Tür meiner Kanzlei. Ich lauschte einen Augenblick. Alles war still. Er mußte fort sein. Ich betätigte den Knauf. Die Tür war verschlossen. Ja, mein Vorgehen hatte wunderbar gewirkt; er mußte tatsächlich verschwunden sein. Doch eine gewisse Traurigkeit vermischte sich damit – es war mir fast leid um meinen glänzenden Erfolg. Ich tastete unter der Fußmatte nach dem Schlüssel, den Bartleby dort für mich hatte hinterlegen sollen, als ich zufällig mit dem Knie gegen eine Türfüllung stieß, was einen Laut hervorrief, wie wenn Einlaß verlangt würde, und als Antwort drang eine Stimme von drinnen zu mir: »Noch nicht; ich bin beschäftigt.«
    Es war Bartleby.
    Ich war wie vom Blitz getroffen. Einen Augenblick stand ich da wie der Mann, welcher, die Pfeife im Mund, vor langer Zeit in Virginia an einem wolkenlosen Nachmittag von einem Sommerblitz erschlagen wurde; an seinem eigenen, warmen, offenen Fenster wurde er erschlagen, und in den verträumten Nachmittag hinausgelehnt, blieb er dort stehen, bis jemand ihn anrührte, da fiel er um.
    »Nicht fort!« murmelte ich schließlich. Doch wieder gehorchte ich jener seltsamen Gewalt, die der unergründbare Schreiber auf mich ausübte, jener Gewalt, der ich mich, trotz all meines Ärgers, nicht völlig entziehenkonnte, und ich ging langsam die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus. Während ich um den Häuserblock ging, erwog ich, was ich in dieser unerhört schwierigen Lage als nächstes tun sollte. Den Mann mit handgreiflicher Gewalt hinauswerfen konnte ich nicht; ihn fortzujagen, indem ich ihn mit Schimpfnamen belegte, wäre nicht angemessen; die Polizei herbeizurufen war ein unangenehmer Gedanke; und doch, ihn sich seines leichenhaften Triumphes über mich freuen zu lassen – auch das war mir nicht möglich. Was war da zu tun? Oder gab es, wenn nichts getan werden konnte, noch etwas anderes, was ich in dieser Angelegenheit voraussetzen konnte? Ja, wie ich zuerst vorblickend vorausgesetzt hatte, daß Bartleby ginge, so könnte ich jetzt rückblickend voraussetzen, daß er gegangen war. Bei folgerichtigem Handeln nach dieser Voraussetzung könnte ich sehr eilig meine Kanzlei betreten, vorgeben, Bartleby gar nicht zu sehen, und geradewegs auf ihn zugehen, als wäre er Luft. Ein solches Vorgehen würde in hohem Grade den Eindruck eines gutsitzenden

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