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Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Melville
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Stoßes machen. Es war kaum möglich, daß Bartleby einer solchen Nutzanwendung der Lehre von den Voraussetzungen standhalten könnte. Aber nach nochmaliger Überlegung erschien mir der Erfolg des Planes recht zweifelhaft. Ich beschloß, mit ihm noch einmal über die Angelegenheit zu sprechen.
    »Bartleby«, sagte ich beim Betreten der Kanzlei mit einem Ausdruck ruhiger Strenge, »ich bin ernstlich verstimmt. Ich bin schmerzlich berührt, Bartleby. Ich hatte eine bessere Meinung von Ihnen. Ich hatte Sie für einenso gebildeten Menschen gehalten, daß in einer heiklen Lage ein leiser Wink genügen würde – kurzum, eine Voraussetzung. Doch anscheinend hab’ ich mich getäuscht. Nanu«, fügte ich ehrlich überrascht hinzu, »Sie haben ja noch nicht einmal das Geld angerührt!«, und dabei wies ich auf die Scheine, die noch genau dort lagen, wo ich sie am Abend vorher zurückgelassen hatte.
    Er gab keine Antwort.
    »Wollen Sie mich verlassen oder nicht?« fragte ich nun in plötzlichem Zorn und trat dicht an ihn heran.
    »Ich möchte Sie lieber nicht verlassen«, erwiderte er mit leichter Betonung des nicht.
    »Was in aller Welt haben Sie für ein Recht, hierzubleiben? Zahlen Sie Miete? Zahlen Sie meine Steuern? Oder gehören diese Räumlichkeiten Ihnen?«
    Er gab keine Antwort.
    »Sind Sie bereit, jetzt wieder zu schreiben? Sind Ihre Augen wiederhergestellt? Könnten Sie heute morgen ein kleines Schriftstück für mich kopieren? oder mir helfen, ein paar Zeilen durchzusehen? oder hinüber zum Postamt gehen? Mit einem Wort, wollen Sie überhaupt etwas tun, um Ihrer Weigerung, die Kanzlei zu verlassen, einen schönen Anstrich zu geben?«
    Er zog sich stumm in seine Einsiedelei zurück.
    Ich war jetzt in einem derartigen Zustand gereizten Grolls, daß ich es nur für klug hielt, mich im Augenblick vor weiteren Äußerungen zurückzuhalten. Bartleby und ich waren allein. Ich erinnerte mich an die Tragödie des unglücklichen Adams und des noch unglücklicheren Coltin dem einsamen Büro des letzteren; und wie der arme Colt, den Adams furchtbar erzürnte und der sich unklugerweise in rasende Erregung bringen ließ, unversehens zu seiner verhängnisvollen Tat getrieben wurde – einer Tat, die gewiß kein Mensch mehr beklagen konnte als der Täter selbst. Oft war mir beim Nachdenken über den Fall der Gedanke gekommen, daß der Streit anders ausgegangen wäre, hätte er sich auf der öffentlichen Straße oder in einem Privathaus zugetragen. Der Umstand, daß sie allein in einem einsamen Büro waren, in einem oberen Geschoß eines Gebäudes, dem gänzlich die Weihe menschlich stimmender häuslicher Assoziationen fehlte, in einem Büro ohne Teppich sicherlich, von verstaubtem, schäbigem Aussehen – das muß sehr dazu beigetragen haben, die gereizte Verzweiflung des unglücklichen Colt noch zu steigern.
    Doch als sich dieser alte Adam des Grolls in mir erhob und mich gegenüber Bartleby versuchte, packte ich ihn und warf ihn nieder. Wie? Nun, einfach indem ich mir das göttliche Wort ins Gedächtnis rief: »Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr liebet einander.« Ja, das war es, was mich rettete. Abgesehen von höheren Erwägungen, wirkt die Nächstenliebe oft als ein höchst weiser und vernünftiger Grundsatz – als mächtiger Schutz für den, der sie besitzt. Die Menschen haben Morde begangen aus Eifersucht und aus Zorn und aus Haß und aus Selbstsucht und aus geistigem Hochmut; aber noch nie habe ich gehört, daß jemals ein Mensch einen teuflischen Mord aus süßer Nächstenliebe begangen hat. Schon derEigennutz sollte also, wenn kein besserer Beweggrund herangezogen werden kann, alle Menschen, besonders die leicht erregbaren, zu Nächstenliebe und Menschenfreundlichkeit veranlassen. Zumindest bemühte ich mich in dem vorliegenden Falle darum, meine Erbitterung gegenüber dem Schreiber zu bezwingen, indem ich sein Verhalten wohlwollend auslegte. Der arme Mensch, der arme Mensch! dachte ich, er meint es ja nicht böse; und außerdem hat er schwere Zeiten erlebt, und man muß Nachsicht mit ihm haben.
    Ich bemühte mich zudem sofort, mich zu beschäftigen und gleichzeitig meiner Verzagtheit Mut zuzusprechen. Ich versuchte mir vorzustellen, daß Bartleby im Laufe des Vormittags zu einem Zeitpunkt, der sich ihm als angenehm erweisen mochte, freiwillig aus seiner Einsiedelei herauskommen und entschlossenen Schrittes in Richtung Tür marschieren würde. Aber nein. Es wurde halb eins; Turkey begann, im Gesicht zu glühen,

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