Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Melville
Vom Netzwerk:
sein Tintenfaß umzustoßen und überhaupt ungebärdig zu werden; Nippers mäßigte sich zu Ruhe und Höflichkeit; Ginger Nut kaute geräuschvoll seinen Mittagsapfel; und Bartleby blieb in einer seiner tiefsten Mauerträumereien an seinem Fenster stehen. Wird man es glauben? Sollte ich es gestehen? An diesem Nachmittag verließ ich die Kanzlei, ohne ihm ein einziges weiteres Wort zu sagen.
    Es vergingen nun ein paar Tage, an denen ich in gelegentlichen müßigen Augenblicken ein wenig in Edwards’ »Über den Willen« und Priestleys »Über die Notwendigkeit«hineinsah. Unter den gegebenen Umständen übten diese Bücher eine heilsame Wirkung auf mich aus. Allmählich kam ich zu der Überzeugung, daß alle meine den Schreiber betreffenden Schwierigkeiten von Ewigkeit an vorherbestimmt waren und daß Bartleby aus irgendeiner geheimnisvollen Absicht einer allweisen Vorsehung, die zu ergründen einem bloßen Sterblichen wie mir nicht zukam, bei mir einquartiert worden war. Ja, Bartleby, bleibe dort hinter deinem Wandschirm, dachte ich; ich werde dich nicht länger verfolgen; du bist harmlos und still wie einer dieser alten Stühle; kurzum, ich fühle mich nie so wie zu Hause, als wenn ich weiß, daß du hier bist. Endlich sehe ich es, fühle ich es; ich dringe zu dem vorherbestimmten Zwecke meines Daseins vor. Ich bin zufrieden. Andere mögen erhabenere Rollen zu spielen haben; doch meine Sendung in der Welt, Bartleby, ist es, dich so lange mit Kanzleiraum zu versehen, wie du es als passend ansehen magst zu bleiben.
    Diese weise und gesegnete Gemütsverfassung würde, glaube ich, bei mir angehalten haben, wären nicht die ungebetenen und hartherzigen Bemerkungen gewesen, die mir meine Geschäftsfreunde bei Besuchen in der Kanzlei aufdrängten. Aber so geschieht es ja oft, daß die ständige Reiberei engherziger Geister schließlich die besten Vorsätze der großmütigeren erschöpft. Doch natürlich war es, wenn ich es mir überlegte, nicht verwunderlich, daß Leute, die in meine Kanzlei kamen, bei dem absonderlichen Anblick des rätselhaften Bartleby erschraken und dadurch in Versuchung gerieten, bösartigeBemerkungen über ihn fallenzulassen. Manchmal versuchte ein Anwalt, der geschäftlich mit mir zu tun hatte und der in meiner Kanzlei vorsprach und dort niemand als den Schreiber antraf, von ihm eine genaue Auskunft über meinen Aufenthaltsort zu erlangen; doch ohne sein müßiges Gerede zu beachten, blieb Bartleby unbeweglich mitten im Zimmer stehen. Daher ging der Anwalt, nachdem er ihn eine Zeitlang in dieser Stellung betrachtet hatte, wieder fort und war nicht klüger als vorher.
    Ebenso war es, wenn die Beratung eines Falles zur Vorlage beim Gericht vor sich ging und das Zimmer voller Rechtsanwälte und Zeugen war und die Arbeit sehr drängte; dann pflegte es zu geschehen, daß ein stark in Anspruch genommener Anwalt, der Bartleby ganz ohne Beschäftigung sah, ihn bat, zu seiner (des Anwalts) Kanzlei hinüberzulaufen und ihm einige Schriftstücke zu holen. Bartleby lehnte es dann ruhig ab und blieb trotzdem so untätig wie zuvor. Darauf starrte ihn der Anwalt groß an und wandte sich an mich. Und was konnte ich dazu sagen? Schließlich wurde ich darauf aufmerksam gemacht, daß durch den ganzen Kreis meiner Geschäftsbekannten ein verwundertes Getuschel lief, welches sich auf das seltsame Geschöpf bezog, das ich mir in meiner Kanzlei hielt. Mir war das überaus unangenehm. Und als mich der Gedanke überfiel, Bartleby könne sich als langlebig erweisen und fortfahren, meine Kanzlei zu bewohnen und meine Autorität zu leugnen und meine Besucher zu verwirren und mein berufliches Ansehen zu schädigen und in den Räumen Düsternis zuverbreiten; könne mit seinen Ersparnissen Leib und Seele bis zum Tode zusammenhalten (denn zweifellos gab er täglich nur fünf Cent aus) und mich am Ende vielleicht überleben und aufgrund eines von ständiger Nutzung hergeleiteten Rechts Besitzansprüche auf meine Kanzlei erheben – als alle diese düsteren Vorahnungen immer mehr auf mich einstürmten und meine Freunde mir fortwährend ihre unbarmherzigen Bemerkungen über die Erscheinung in meinem Zimmer aufdrängten, vollzog sich in mir eine große Wandlung. Ich beschloß, alle meine Kräfte zusammenzunehmen und mich für immer von diesem unerträglichen Alb zu befreien.
    Ehe ich mir jedoch zu diesem Zweck einen komplizierten Plan überlegte, gab ich Bartleby zuerst nur zu verstehen, daß es sich für ihn schicke, endgültig

Weitere Kostenlose Bücher