Bartleby, der Schreiber
fortzugehen. In ruhigem und ernstem Tone empfahl ich diesen Gedanken seiner sorgfältigen und reiflichen Erwägung. Aber nachdem er drei Tage gebraucht hatte, um darüber nachzudenken, setzte er mich davon in Kenntnis, daß sein ursprünglicher Entschluß unverändert geblieben sei, kurzum, daß er lieber noch bei mir bleiben möchte.
Was soll ich tun? sagte ich nun zu mir selbst und knöpfte meinen Rock bis zum letzten Knopf zu. Was soll ich tun? was müßte ich tun? was rät mir mein Gewissen mit diesem Menschen oder vielmehr Gespenst zu tun? Loswerden muß ich ihn; gehen soll er. Aber wie? Du wirst ihn doch nicht hinauswerfen, den armen, blassen, duldenden Sterblichen – du wirst doch nicht ein solchhilfloses Geschöpf zur Tür hinauswerfen? du wirst dich doch nicht durch eine solche Grausamkeit entehren? Nein, das will ich, das kann ich nicht tun. Eher würde ich ihn hier leben und sterben lassen und dann seine sterblichen Überreste in die Wand einmauern. Was also willst du tun? Trotz all deines guten Zuredens will er sich nicht von der Stelle rühren. Bestechungsgelder läßt er unter deinem eigenen Briefbeschwerer auf deinem Tisch liegen; kurzum, es ist ganz klar, daß er sich lieber an dich klammern möchte.
Dann muß etwas Ernstes, etwas Ungewöhnliches geschehen. Was! du wirst ihn doch wohl nicht von einem Polizisten am Kragen packen lassen und die Unschuldsblässe dem Stadtgefängnis überantworten? Und mit was für einer Begründung könntest du etwas Derartiges überhaupt veranlassen? – ein Vagabund ist er? Was! er ein Vagabund, ein Herumtreiber, er, der es ablehnt, sich von der Stelle zu rühren? Also, weil er kein Vagabund sein will, suchst du ihn als Vagabunden anzusehen. Das ist zu widersinnig. Keine ersichtlichen Mittel für den Lebensunterhalt – da hab’ ich ihn. Wieder falsch, denn unzweifelhaft unterhält er sich, und das ist der einzige unwiderlegbare Beweis, den jemand erbringen kann, daß er die Mittel dazu besitzt. Und damit Schluß. Da er mich nicht verlassen will, muß ich ihn verlassen. Ich werde meine Kanzleiräume wechseln; ich werde woandershin ziehen und ihm offen erklären, daß ich gegen ihn als gewöhnlichen Hausfriedensbrecher vorgehen werde, falls ich ihn in meinen neuen Räumen antreffe.
Dementsprechend wandte ich mich am nächsten Tage folgendermaßen an ihn: »Mir liegt diese Kanzlei zu weit vom Rathaus entfernt; die Luft ist ungesund. Mit einem Wort, ich habe die Absicht, nächste Woche meine Räume zu verlegen, und werde Ihre Dienste nicht länger benötigen. Ich sage es Ihnen schon jetzt, damit Sie sich eine andere Stellung suchen können.«
Er gab keine Antwort, und es fiel kein weiteres Wort darüber.
Am festgesetzten Tage mietete ich Karren und Leute, begab mich zu meiner Kanzlei, und da ich nur wenige Möbel hatte, wurde alles in ein paar Stunden abtransportiert. Die ganze Zeit blieb der Schreiber hinter dem Wandschirm stehen, der auf meine Anweisung hin zuletzt entfernt werden sollte. Der Wandschirm wurde weggenommen; und als er wie ein riesiger Foliant zusammengeklappt wurde, ließ er Bartleby als den unbeweglichen Bewohner eines kahlen Raumes zurück. Ich stand in der Tür und beobachtete ihn einen Augenblick, während etwas in meinem Inneren mich tadelte.
Ich trat, die Hand in der Tasche, wieder ins Zimmer – und – und fühlte mein Herz bis zum Halse schlagen.
»Leben Sie wohl, Bartleby; ich gehe jetzt – leben Sie wohl, und möge Gott Sie auf irgendeine Weise beschützen; und nehmen Sie dies«, und ich ließ etwas in seine Hand gleiten. Aber es fiel zu Boden, und dann – so seltsam es klingt – riß ich mich von ihm, den los zu sein ich so sehr ersehnt hatte.
Als ich mich in meiner neuen Unterkunft eingerichtethatte, hielt ich ein paar Tage lang die Tür verschlossen und fuhr bei jedem Schritt auf den Fluren zusammen. Kehrte ich nach einer kurzen Abwesenheit zu meiner Kanzlei zurück, so blieb ich einen Augenblick an der Schwelle stehen und lauschte aufmerksam, ehe ich den Schlüssel ins Schloß steckte. Doch meine Befürchtungen waren überflüssig. Bartleby kam niemals in meine Nähe.
Ich glaubte schon, daß alles gutgehe, als mich ein verstört aussehender Fremder aufsuchte und sich erkundigte, ob ich bis vor kurzem Mieter von Räumen in der Wall-Street Nr. ... gewesen sei.
Voll böser Vorahnungen bejahte ich es.
»Dann, Sir«, sagte der Fremde, ein Anwalt, wie sich herausstellte, »sind Sie verantwortlich für den Mann, den Sie dort
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