Bartleby, der Schreiber
Rechnungsbeträge einziehen? Das würde Ihrer Gesundheit förderlich sein.«
»Nein, ich möchte lieber etwas anderes tun.«
»Wie wäre es denn, als Gesellschafter nach Europa zu fahren, um einen jungen Herrn mit Ihrem Gespräch zu unterhalten? Wie würde Ihnen das gefallen?«
»Ganz und gar nicht. Es kommt mir nicht so vor, daß es dabei etwas Festgelegtes gibt. Ich bin gern seßhaft. Aber ich bin nicht wählerisch.«
»Also sollen Sie seßhaft sein!« rief ich und verlor jetzt alle Geduld; zum ersten Mal in meiner ganzen zermürbenden Beziehung zu ihm geriet ich in offene Wut. »Wenn Sie nicht bis zum Abend dieses Haus verlassen, dann sehe ich mich gezwungen – ja dann bin ich gezwungen –, selbst – selbst – das Haus zu verlassen!« schloß ich ziemlich unsinnig, weil mir keine Drohung einfiel, mit der ich versuchen konnte, ihn so einzuschüchtern, daß sich seine Unbeweglichkeit in Zustimmung verwandelte. Da ich an allen weiteren Versuchen verzweifelte, wollte ich schon davonhasten, als mir ein letzter Gedanke kam – ein Gedanke, den ich bereits früher nicht ganz außer acht gelassen hatte.
»Bartleby«, sagte ich in dem freundlichsten Tone, zu dem ich unter so erregenden Umständen fähig war, »wollen Sie jetzt mit mir nach Hause gehen – nicht in meine Kanzlei, sondern meine Wohnung – und dort bleiben, bis wir in aller Ruhe eine passende Regelung für Sie gefunden haben? Kommen Sie, lassen Sie uns jetzt gehen, sofort!«
»Nein, im Augenblick möchte ich lieber überhaupt keine Veränderung vornehmen.«
Ich erwiderte nichts. Ich stürzte, durch meine jähe und schnelle Flucht jede Begegnung vermeidend, aus dem Gebäude, rannte die Wall-Street hinauf in Richtung Broadway, sprang auf den erstbesten Omnibus und warbald der Verfolgung entzogen. Sobald ich mich beruhigt hatte, erkannte ich klar, daß ich jetzt alles, was ich irgend konnte, getan hatte, sowohl im Hinblick auf die Forderungen des Hauseigentümers und seiner Mieter als auch in Rücksicht auf meinen Wunsch und mein Pflichtgefühl, Bartleby Gutes zu tun und ihn vor roher Verfolgung zu schützen. Ich bemühte mich nun, völlig sorglos und ruhig zu sein; und mein Gewissen gab mir recht in dem Versuche; doch er war nicht so erfolgreich, wie ich es mir gewünscht hätte. Meine Furcht, von dem aufgebrachten Hauseigentümer und seinen erbosten Mietern abermals aufgespürt zu werden, war so groß, daß ich Nippers meine Geschäfte übergab und einige Tage mit meiner Kutsche im oberen Teil der Stadt und in den Vorstädten umherfuhr; ich setzte nach Jersey City und Hoboken über und stattete flüchtige Besuche Manhattanville und Astoria ab. Tatsächlich wohnte ich in dieser Zeit fast in meiner Kutsche.
Als ich meine Kanzlei wieder betrat, lag, siehe da, ein Brief des Hauseigentümers auf dem Pult. Ich öffnete ihn mit zitternden Händen. Der Verfasser teilte mir darin mit, daß er nach der Polizei geschickt und Bartleby als Vagabunden zu den Tombs habe schaffen lassen. Ferner, da ich mehr über ihn wisse als irgend jemand sonst, bitte er mich, dort zu erscheinen und eine angemessene Darstellung des Sachverhalts zu geben. Diese Nachricht hatte eine widersprüchliche Wirkung auf mich. Zuerst war ich entrüstet, doch schließlich fast einverstanden. Seine tatkräftige, entschlossene Art hatteden Hauseigentümer veranlaßt, ein Verfahren zu wählen, für das ich mich selbst wohl nicht entschieden hätte; und doch schien es, unter so eigentümlichen Umständen, als letzter Ausweg das einzig mögliche Vorgehen zu sein.
Wie ich später erfuhr, hatte der arme Schreiber bei der Mitteilung, daß er zu den Tombs geführt werden müsse, nicht den geringsten Widerstand geleistet, sondern sich auf seine blasse, regungslose Weise stumm gefügt.
Einige der mitleidigen und neugierigen Zuschauer schlossen sich der Gruppe an; und angeführt von einem der Polizisten, der Arm in Arm mit Bartleby ging, bewegte sich der schweigende Zug zur Mittagszeit durch all den Lärm und die Hitze und die Freude der tosenden Hauptstraßen.
An demselben Tage, an dem ich den Brief erhalten hatte, ging ich zu den Tombs, angemessener ausgedrückt, den Halls of Justice. Ich suchte den zuständigen Beamten auf, erklärte ihm den Zweck meines Besuches und erfuhr, daß sich die von mir beschriebene Person tatsächlich im Gefängnis befinde. Ich versicherte dann dem Beamten, daß Bartleby ein völlig redlicher Mensch und sehr zu bemitleiden, doch unerklärlich überspannt sei. Ich
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