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Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Melville
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paar Tage darauf erhielt ich wieder Zutritt zu den Tombs und ging auf der Suche nach Bartleby durch die Korridore; doch ich fand ihn nicht.
    »Ich hab’ ihn vorhin aus seiner Zelle kommen sehn«, sagte ein Wärter, »vielleicht schlendert er in den Höfen herum.«
    Also ging ich in diese Richtung.
    »Suchen Sie den stummen Mann?« sagte ein anderer Wärter, der an mir vorbeiging. »Da drüben liegt er – schläft dort im Hof. Noch keine zwanzig Minuten, da hab’ ich gesehn, wie er sich hingelegt hat.«
    Im Hof herrschte völlige Stille. Die gewöhnlichen Gefangenen hatten zu ihm keinen Zugang. Die Umfassungsmauern, die von erstaunlicher Stärke waren, hielten jeden Laut hinter ihnen ab. Der ägyptische Charakter des Mauerwerks bedrückte mich mit seiner Düsterheit. Doch unter meinen Füßen wuchs ein weicher, eingekerkerter Rasen. Es war wie im Innersten der ewigen Pyramiden, in welchem Grassamen, von Vögeln fallen gelassen, vermöge eines seltsamen Zaubers, durch die Spalten, aufgeschossen war.
    Am Fuße der Mauer erblickte ich den abgezehrten Bartleby, merkwürdig zusammengekauert, die Knie angezogen, wobei er auf der Seite lag und sein Kopf die kalten Steine berührte. Doch nichts an ihm regte sich. Ich hielt inne; dann trat ich dicht an ihn heran, beugte mich über ihn und sah, daß seine trüben Augen geöffnet waren; sonst aber schien er tief zu schlafen. Etwas trieb mich, ihn anzurühren. Ich faßte seine Hand an, und einkribbelnder Schauder lief mir den Arm hinauf und das Rückgrat hinab bis zu den Füßen.
    Das runde Gesicht des Essensmannes blickte jetzt forschend zu mir herunter. »Sein Mittagessen ist fertig. Will er heute auch nicht essen? Oder lebt er, ohne zu essen?«
    »Lebt, ohne zu essen«, sagte ich und schloß ihm die Augen.
    »Wie? – Er schläft wohl, was?«
    »Mit Königen und Ratsherren«, murmelte ich.
    * * *
    Es wird kaum nötig erscheinen, in dieser Geschichte fortzufahren. Die Phantasie wird den kargen Bericht von der Beerdigung des armen Bartleby mühelos liefern. Aber ehe ich vom Leser scheide, lasse er mich noch sagen: Falls diese kleine Erzählung ihn genug gefesselt hat, um seine Neugier zu erregen, wer Bartleby war und was für ein Leben er führte, bevor ihn der Erzähler kennenlernte, so kann ich darauf nur erwidern, daß ich seine Neugier ganz und gar teile, aber völlig außerstande bin, sie zu befriedigen. Doch hier weiß ich nicht recht, ob ich dem Leser eine kleine Einzelheit bekanntmachen soll, die mir ein paar Monate nach dem Tode des Schreibers gerüchtweise zu Ohren kam. Worauf sie sich gründete, konnte ich nie in Erfahrung bringen, und deshalb kann ich jetzt auch nicht sagen, inwieweit sie wahr ist. Da aber dieser vage Bericht, so traurig er war, für mich nicht ohne einen gewissen seltsamen, suggestiven Reiz gewesen ist, mag er das ebenso für andere sein; und daher will ich ihnkurz erwähnen. Der Bericht besagte, daß Bartleby ein untergeordneter Angestellter im Dead Letter Office in Washington gewesen sei und diese Stellung durch einen Wechsel in der Regierung plötzlich verloren habe. Wenn ich über dieses Gerücht nachdenke, kann ich die Empfindungen, die mich dabei ergreifen, fast nicht ausdrükken. »Tote Briefe!«, klingt es nicht wie »tote Menschen«? Man stelle sich einen Mann vor, der durch Veranlagung und Mißgeschick einer blassen Hoffnungslosigkeit zuneigt – kann irgendeine Beschäftigung geeigneter erscheinen, sie noch zu verstärken, als das fortwährende Umgehen mit unbestellbaren Briefen und ihr Sichten für die Flammen? Denn karrenweise werden sie alljährlich verbrannt. Manchmal nimmt der blasse Angestellte aus dem zusammengefalteten Papier einen Ring – der Finger, für den er bestimmt war, modert vielleicht im Grabe; eine Banknote, in eiligster Barmherzigkeit abgesandt – der, dem sie Hilfe bringen sollte, ißt und hungert nicht mehr; Verzeihung für jene, die verzweifelt starben; Hoffnung für jene, die ohne Hoffnung starben; frohe Botschaft für jene, die von ungelindertem Unglück erstickt wurden und starben. Auf Botengängen des Lebens eilen diese Briefe zum Tod.
    O Bartleby! O Menschheit!

Anhang
    Kommentar
    »Bartleby, the Scrivener, A Story of Wall-Street« erschien zuerst in der Zeitschrift Putnam’s Monthly Magazine in den Ausgaben für November und Dezember des Jahres 1853. Herman Melville (1819 in New York geboren und 1891 dort gestorben) schrieb die Erzählung in den vorhergegangenen Monaten August und September. Im Jahre

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