Bassus (German Edition)
ging er jeden Morgen zu Kallisto, sah ihr zu und assistierte. Am Nachmittag zog er weiter in die Bibliothek des Grannustempels und las Bücher über Augenheilkunde. Er hatte zwar nicht vor, später als Okulist zu arbeiten, aber er wollte als Arzt in möglichst vielen Gebieten Bescheid wissen. Zumindest in Notfällen wollte er auch Behandlungen durchführen können, die in das Gebiet eines anderen Experten der Heilkunst fielen.
Der Germane saß mit dem Gesicht zum Licht direkt vor dem großen Fenster auf einem Stuhl.
„Du bist bereit?“, fragte Kallisto ihn.
Der Mann nickte.
Seine Enkelin trat vor. „Er hat in den letzten drei Tagen wenig gegessen, aber viel Wasser getrunken.“
Kallisto nickte zufrieden und winkte ihre Assistentin heran. Die legte ein Stück Wolle auf das andere Auge und fixierte sie mit einem Verband. Dieses Auge würde erst dann behandelt werden, wenn das heute operierte verheilt war. Dann stellte sie sich hinter den Stuhl und hielt den Kopf des Mannes fest. Kallisto saß ihm auf einem erhöhten Schemel gegenüber. Auf einem Tischchen neben ihr lagen die Instrumente für die Operation. Sie nahm eine der Starnadeln und näherte sich dem offenen Auge. Mit der einen Hand drückte sie das Augenlid nach oben und mit der anderen stach sie ins Auge. Es geschah alles sehr schnell, und noch nie hatte Kallisto eine Ader getroffen.
Bassus verließ das Behandlungszimmer und betrat den von marmornen Halbsäulen geschmückten Vorraum. Er streckte sich. Nichts. Keine Schmerzen mehr. Die Masseure von Aquae Granni hatten in den letzten Wochen gute Arbeit geleistet.
Ein anderer Patient kam ihm hinkend entgegen und betrat das Zimmer. Bassus ging an der Tür vorbei, die zu den Badebecken mit heißem Wasser führte, und steuerte auf die Regalwand zu, in der die Gäste ihre Sachen aufbewahrten. Gerade als er in sein Fach greifen wollte, lief einer der Sklaven herbei, um ihm zu helfen. Bassus gab ihm das Handtuch, das er um seine Hüften gewickelt hatte, und zog seine bodenlange weiße Tunika an. Beim Anlegen der leichten Sommertoga half ihm ein anderer Sklave. Das einzige Kleidungsstück aus seiner Soldatenzeit, das er weiterhin trug, waren seine Caligae.
Draußen wartete Harpalos. Bassus kraulte ihn ausgiebig hinter den Ohren. Dann machten sie sich auf den Weg. Die Strahlen der Sonne brannten heiß. Was war nur mit dem Frühling geschehen? Auf den Bäumen und Sträuchern lag schon jetzt die Staubschicht eines trockenen Sommers. Schon seit Wochen waren sie hier. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte Bassus eine so lange Zeit damit verbracht, einfach nur auszuschlafen, spazieren zu gehen, zu schwimmen, sich massieren zu lassen – und zu lesen. Endlich in Ruhe lesen zu können! Und das angeblich auf Kosten der Armee, denn er war immer noch im aktiven Dienst.
Und zu verdanken hatte er das alles Tony.
Sie waren unbehelligt bis zum Rhein gekommen, wo eine Liburne der Flotte sie bereits erwartete. In Severus’ Haus war er mehrere Tage lang von Morvran und Tony betreut worden. Danach hatten sie ihn ins Valetudinarium der Ala Noricorum gebracht, wo Wackeron sich um ihn kümmerte. Währenddessen organisierte Tony alles. Er war sogar nach Moguntiacum gereist, wo er den Imperator Nerva Trajanus gerade noch antraf, bevor der nach Dakien aufbrach. Inzwischen war der Aufstand dort erfolgreich niedergeschlagen, und Trajanus war jetzt da, wo er sein sollte: in Rom.
Wahrscheinlich würden Bassus und Tony ihren Imperator nie wieder sehen, zumindest ihm nie wieder so nahe kommen wie hier in Germanien. Aber Trajanus hatte noch diesen Kuraufenthalt angeordnet und bezahlte ihn wohl auch. Denn die Armee kam normalerweise nicht auf für die Genesungsaufenthalte ihrer Soldaten außerhalb eines Valetudinariums – es sei denn, das Lager befand sich in der Nähe von Heilquellen.
Am teuersten war die Unterkunft. Bassus wäre auch mit einem sehr viel einfacheren Zimmer zufrieden gewesen, aber Trajanus hatte darauf bestanden, dass er und Tony in einer der teuersten Luxusherbergen der Stadt einquartiert wurden.
Warum hatte Trajanus das getan? Er schuldete Bassus doch nichts. Oder war es die Entschuldigung dafür, dass er Bassus‘ erneute Bitte um Entlassung aus der Armee wieder abgelehnt hatte? Warum nur ließ man ihn nicht ziehen? Als Kundschafter konnte er nach den Ereignissen der vergangenen Monate schließlich nicht mehr arbeiten. Er war viel zu bekannt.
Bassus blickte um sich. Dieses Aquae Granni würde sicher bald zu
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