Bateman, Colin
wenn ich nie gereist bin,
heißt das noch lange nicht, dass ich nicht welterfahren bin. Meine Bücher haben mir
ein gründliches Wissen über unseren Planeten vermittelt, und gute Romane haben
mich an buntere und klangvollere Orte geführt, als komplizierte Zugreisen oder
strapaziöse Abenteuer auf dem Rücken eines Yaks es je vermocht hätten. Man muss
keinen Jazz hören, um ihn zu schätzen. Ich kann monatelang über das unerhörte
Talent Dizzy Gillespies referieren, erkenne aber keine Note seiner Musik
wieder, wenn ich zufällig in einem Aufzug darüber stolpere. Und so habe ich
genug über chinesische Kultur gelesen - angefangen mit Das Geheimnis des Dr. Fu
Manchu von
Sax Rohmer, das ich in meiner Kindheit ebenso wie viele weitere Bände über
diesen Meisterverbrecher verschlungen habe -, um zu wissen, dass die verschwundene
May nicht aus den Armen ihres Liebhabers in irgendein mysteriöses Versteck
entflohen, sondern an den Busen ihres Volks zurückgekehrt war. Und damit meine
ich nicht China selbst. Dieses riesige, überbevölkerte Land wäre ihr, die hier
in Belfast geboren und aufgewachsen war, völlig fremd gewesen; ebenso wie der
eiskalte Südatlantik einer ausgebildeten Zirkusrobbe. Während andere
Artgenossen Fische fingen und sich auf Eisschollen tummelten, würde sie
lediglich in die Flossen klatschen und einen bunten Ball auf der Nase
jonglieren. Nein, ich war mir ziemlich sicher, dass May noch immer in Belfast
steckte, eifersüchtig bewacht von unserer nicht unbedeutenden chinesischen
Gemeinde. Und da sie Kellnerin war, bestand der offenkundige Weg zu ihrem
Wiederauffinden darin, dass ich und meine Freundin so viele chinesische
Speiselokale aufsuchten wie möglich.
Was allerdings eine nicht
unbeträchtliche Herausforderung darstellte, da mein Magen empfindlich auf
chinesisches Essen reagiert. Und auf indisches Essen. Und auf italienisches
Essen. An sich brauche ich zum Überleben nichts anderes als Irish Stew,
Wackelpudding und alles, was in einer Cadbury's- oder Mars-Selection-Box angeboten
wird; aber manchmal muss ich es eben auf mich nehmen, in einem Restaurant
Essen zu bestellen, das ich mit Sicherheit nicht vertrage. Das sind die Opfer,
die ich bereitwillig erbringe, um einen Fall zu lösen.
Garth Corrigan überließ mir
ein Foto seines Mädchens. Während ich es studierte, lehnte er sich über meine
Schulter. »Schauen Sie nur - eigentlich hätte ich von Anfang an merken müssen,
wie empfindlich sie ist, denn sie trägt ihr Haar über die Ohren gekämmt.«
»Ein unglücklicher Umstand«,
pflichtete ich bei. »Würden sie nämlich hervorstehen, könnte ich sie leichter
identifizieren. Chinesen sehen für mich alle gleich aus.«
Mr. Corrigan warf mir einen
Blick zu. »Finden Sie nicht, dass das ein bisschen...?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich
bin der Überzeugung, man sollte die Sache beim Namen nennen.«
»Finden Sie nicht, dass das ein bisschen...?«
»Mr. Corrigan, wenn es um Gerechtigkeit geht, bin ich
farbenblind.«
»Natürlich, verstehe.«
»Ich meine, sie sehen
tatsächlich alle gleich aus, zumindest bis man sie näher kennenlernt. Es ist
genau wie mit Hundewelpen. Man denkt, alle sind sich gleich, aber mit der Zeit
lernt man sie auseinanderzuhalten: der mit der feuchten Schnauze, der mit dem
wackelnden Schwänzchen. Und ich bin mir sicher, die Chinesen denken genauso
über uns. Wenn ich diesen Fall erst mal abgeschlossen habe, kann ich
wahrscheinlich auf hundert Meter Entfernung einen Ching von einem Chong unterscheiden.«
Erneut musterte er mich.
»Nun, wie es der Zufall will«,
fügte ich hinzu, »bin ich tatsächlich farbenblind. Jedesmal, wenn ich eine
Ampel überquere, ist das für mich wie Russisch Roulette.«
Vermutlich wusste er nicht
genau, was er von mir halten sollte, andererseits war ich ganz offensichtlich
seine letzte Hoffnung, das Mädchen zurückzubekommen. Und dabei benötigte ich
die Unterstützung der wundervollen Alison, deren erste Aufgabe darin bestand,
während der Mittagspause herüberzukommen, damit Mr. Corrigan ihr die Ohren
seiner verschwundenen Freundin beschreiben konnte. Als Künstlerin war Alison in
der Lage, ein sogenanntes Phantombild der besagten Körperteile zu verfertigen,
in entsprechendem Maßstab, mit detaillierter Formgebung und Größe des
Ohrläppchens, genauer Position und Anzahl von Piercings und Ohrringen, einer
Skizze der kleinen Knorpel innerhalb des Ohrs sowie einigen Andeutungen der
vom Schädel abweichenden Kurve des Ohrs, wenn
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