Bator, Joanna
eine wenn auch krumme und unterbrochene Linie
verfolgen und zeigen könnte: das hat dann und dann begonnen. Dorther komme ich,
das ist mein Anfang, das ist mein Stamm. Hatte es dort, in der Vergangenheit,
des Zählens kundige Schwestern gegeben, die Mohn säten, die sich auf den Mond
und auf Kräuter verstanden, oder waren es fromme Greisinnen, die Sünden zählten
ohne Abakus? Hochexponentielle Großmütter - hatte es die gegeben? Häuser, in
die man hineingehen konnre, wo man die Schuhe ausziehen und bleiben konnte,
oder Häuser mit Durchzug und Gelärm? Mit offenen Fenstern auf einen Park?
Mansarden? Blähte der Wind weiße Gardinen wie Segel? Zigeunerinnen aus einem
Zigeunerlager, die aus der Hand lesen konnten? Zigeunerinnen in langen Röcken
und mit Ohrringen wie Sonnen, die auftauchten und verschwanden, weil sie nie
irgendwo sein mussten. Unstete Zigeunerinnen, mit denen man drohte - sie kommen
dich holen —, und Dominika wartete und wartete, doch keine kam. Wie waren sie
gewesen? Waren es nährende Mütter, umringt von Kindern, die sich in sie
schmiegten wie Körner in eine Ähre, oder verrückte Wanderinnen, einsam auf
Schiffen, die Haare im Wind wehend, die Wüsten durchmessend, in ledergebundene
Notizbücher schreibend? Gab es Zwillingsschwestern, die nicht ganz
unterschiedlich, sondern identisch waren, mit dunkler Haut und Augen so
schwarz, dass man die Iris nicht von den Pupillen unterscheiden konnte? Gab es
Väter, die nicht Säufer und die lebendig waren, gab es Mütter, die weder zu
viel noch zu wenig gaben?
Dominika
durchwühlte Haiinas Wohnung und die spärlichen Andenken, die ihre Mutter besaß,
doch sie fand nichts Neues, weder in dem ehemals deutschen Schrank noch in dem
Pappköfferchen, mit dem Jadzia vor Jahren aus Zalesie gekommen war, um nach
Piaskowa Göra zu ziehen. Sie suchte nach dem Geheimnis ihrer Unähnlichkeit in
Zofias verfallendem Haus, wo sie die Sommerferien verbrachte. Sie steckte die
Hände in die Abgründe von Schubladen, die mit Kaninchenfellen vollgestopft
waren, schaute hinter die nach Bauernart aufgehängten Bilder, wo Zofia jedes
Jahr die zu Maria Himmelfahrt gesegneten Sträußchen hinsteckte, von denen sie
seit einem halben Jahrhundert keines weggeworfen hatte. Die zu Staub getrockneten
Pflanzen zerbröselten zwischen den Fingern der Enkelin. Sie blätterte die
stockfleckigen Lagen Packpapier auseinander, die ihre Großmutter hortete, als
hätte sie in nächster Zukunft einen großen Umzug vor, und scheuchte Motten mit
durchsichtigen Flügeln auf, diese im Dunkel lebenden Insektengeister, die an
der Sonne eingehen. Keine Angst! beruhigte sie die Mäuse, die aus ihren
Nestern in den Kaninchenfellen wuselten und ihre nackte piepsende Brut
zurückließen. Wozu brauchte die Großmutter diese alten Felle? Die Großmutter
zuckte mit den Schultern und lächelte ihr kindliches Lächeln, das Dominika
rührte und aufregte. Wenn Dominika in Zalesie war, wich dieses Lächeln nicht
von Zofias Gesicht. Manchmal rief die Enkelin sie, bekam keine Antwort, suchte
sie im ganzen Haus und fand sie schließlich in einem Winkel hockend, mit
feuchten Augen und einem Lächeln so breit wie für ein Foto.
Zofia konnte
nicht von der Erleichterung sprechen, die sie bei Dominikas Anblick stets von
neuem empfand, denn dann hätte sie alles erzählen müssen, die Liebe drang ohne
Worte aus ihr und hinterließ goldene Streifen wie abgefallenes Lametta vom
Weihnachtsbaum. In dem Staub, der bei jeder Luftbewegung in dem selten gefegten
Haus wolkenweise aufstieg, tanzten schimmernde Teilchen und ließen sich auf
den abgenutzten Dingen nieder. Zofia Maslak wurde wieder zu einer Frau, unter
deren Händen die Brote rund und goldgelb aufgingen und auf der Unterseite den
Abdruck der kunstvoll verästelten Adern eines Kohlblatts trugen, die Hühner
legten zweimal am Tag Eier, und ihre Apfelbäume trugen zweimal so viel wie die
anderen in Zalesie. Ihr Garten war wieder so herrlich wie früher, noch
bereichert um phantasievolle Unregelmäßigkeit, die etwas Neues war. Die Beete
verloren ihre akkurate Eckigkeit, verwebten sich mit den wellenlinienförmigen
Erdbeerstreifen, zwischen denen die Federbüsche der Möhren und Fontänen von
rosa Akelei emporragten. Kalbskopfgroße Kürbisse wärmten sich zwischen Blumen
in der Sonne. Jetzt ist die Maslak ganz durchgedreht, sagten die Nachbarn
kopfschüttelnd, in diesem Kraut und Rüben wird sie einen Scheißdreck ernten.
Doch es wuchs, es wuchs wild und wie verrückt,
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