Baudolino - Eco, U: Baudolino
wechselte rasch das Thema und fragte, ob es jetzt an der Zeit sei, die Stadt zu verlassen.
»Es herrscht noch ein großes Durcheinander«, sagte Pevere, »und man muss sehr vorsichtig sein. Wohin wolltet Ihr denn gehen, Herr Niketas?«
»Nach Selymbria, dort haben wir treue Freunde, die uns aufnehmen können.«
»Selymbria ist schwierig«, sagte Pevere. »Es liegt im Westen, kurz vor der Langen Mauer. Auch mit Maultieren braucht man bis dahin mindestens drei Tage und vielleicht mehr, wenn man eine schwangere Frau dabei hat. Und dann, stellt Euch vor, wer die Stadt mit einer schönen Maultierkarawane durchzieht, sieht aus wie einer, der sich's leisten kann, und die Pilger fallen über ihn her wie die Fliegen.« Also müssten die Maultiere außerhalb der Mauer bereitgestellt und die Stadt zu Fuß durchquert werden. Man müsste die Konstantinsmauer passieren und dann die Küste vermeiden, wo sicher mehr Leute unterwegs sein würden, also einen Umweg über die Mokioskirche machen und die Theodosiosmauer durch das Pegetor verlassen.
»Kaum zu erwarten, dass das gut geht und Ihr nicht vorher angehalten werdet«, sagte Pevere.
»Und dann viel Spaß!« kommentierte Grillo. »Bei so vielen Frauen läuft diesen Pilgern doch gleich das Wasser im Mund zusammen!«
Sie brauchten noch einen guten Tag, erklärten die Genueser, die jungen Frauen müssten erst hergerichtet werden. Das mit den Leprakranken ginge nicht noch einmal, inzwischen hätten auch diese Pilger begriffen, dass in der Stadtkeine Leprakranken herumliefen. Diesmal müssten sie ihnen Flecken und Schorf ins Gesicht malen, damit sie aussähen, als ob sie die Krätze hätten, hässlich genug, dass einem die Lust auf sie verging. Außerdem musste man für so viele Leute, die drei Tage unterwegs sein würden, genug zu essen mitnehmen, sonst machten die schlapp. Sie würden Körbe mit ganzen Pfannenladungen scripilita herrichten, einem bei ihnen heimischen Fladen aus Kichererbsenmehl, knusprig und zart, der in Scheiben geschnitten und in große Blätter gehüllt werde, man brauche nur noch ein bisschen Pfeffer drüberzustreuen, dann sei es ein Leckerbissen, mit dem man Löwen ernähren könne, besser als ein Stück Rinderbraten; dazu dicke Scheiben Fladenbrot mit Öl, Salbei, Käse und Zwiebeln.
Niketas hatte für derlei barbarische Speisen nicht viel übrig, und da sie noch einen Tag warten mussten, beschloss er, ihn damit zu verbringen, die letzten Köstlichkeiten zu genießen, die Theophilos noch zubereiten konnte, und die letzten Kapitel von Baudolinos Geschichte zu hören, denn er wollte ungern mittendrin aufbrechen, ohne zu wissen, wie sie endete.
»Meine Geschichte ist noch zu lang«, sagte Baudolino. »Ich komme in jedem Fall mit euch. Hier in Konstantinopel habe ich nichts mehr zu tun, und jede Ecke ruft böse Erinnerungen in mir wach. Du bist mein Pergament geworden, Kyrios Niketas, auf das ich vieles schreibe, was ich schon vergessen hatte, als bewegte sich meine Hand von allein. Ich glaube, wer Geschichten erzählt, muss immer jemanden haben, dem er sie erzählt, nur dann kann er sie auch sich selbst erzählen. Erinnerst du dich, wie ich dir erzählte, dass ich Briefe an die Kaiserin schrieb, die ich jedoch nicht abschicken konnte? Dass ich die Geschmacklosigkeit beging, sie meinen Freunden zu zeigen, war nur, weil diese Briefe sonst keinen Sinn gehabt hätten. Als ich dann aber mit der Kaiserin diesen Kuss getauscht hatte, habe ich das nie jemand erzählen können und habe die Erinnerung daran viele Jahre lang in mir herumgetragen, manchmal davon kostend wie von deinem Honigwein und manchmal mit einem bitteren Geschmack im Munde.Erst als ich es dir erzählen konnte, habe ich mich frei gefühlt.«
»Und warum hast du es mir erzählen können?«
»Weil jetzt, wo ich dir hier erzähle, keiner von denen mehr da ist, die mit meiner Geschichte zu tun gehabt haben. Ich bin als einziger übrig geblieben. Ich brauche dich jetzt so nötig wie die Luft zum Atmen. Ich komme mit nach Selymbria.«
Sobald sich Friedrich von seinen Verletzungen in der Schlacht bei Legnano erholt hatte, rief er Baudolino und den Reichskanzler Christian von Buch zu sich. Wenn man den Brief des Priesters Johannes ernst nehmen wollte, war es gut, sofort anzufangen. Christian las das Pergament, das Baudolino ihm zeigte, und erhob als umsichtiger Kanzler einige Einwände. Vor allem erschien ihm die Schrift nicht angemessen für eine Kanzlei. Dieser Brief sollte am päpstlichen Hof
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