Baudolino - Eco, U: Baudolino
dass ich zu jener Zeit noch nicht am Hofe war –, hatten sie nicht den Auftrag, irgendeinen Tumult anzuzetteln. Manuel hatte sich ins Unvermeidliche geschickt. Er wollte wahrscheinlich bloß informiert sein über das, was geschehen würde.«
»Kyrios Niketas, du weißt sicher, wenn du Logothet der Sekreta warst, dass es für Spione zweier gegnerischer Parteien, die sich auf demselben Intrigenfeld treffen, die natürlichste Sache der Welt ist, herzliche Freundschaftsbeziehungen zu unterhalten und einander ihre Geheimnisse anzuvertrauen. So brauchen sie keine Risiken einzugehen, um sie sich gegenseitig zu entreißen, und erscheinen höchst effizient in den Augen ihrer Auftraggeber. Genauso lief die Sache damals zwischen uns und jenen Mönchen ab: Wir sagten einander sofort, weshalb wir da waren, wir, um sie auszuspionieren, und sie, um uns auszuspionieren, und verbrachten danach gemeinsam sehr schöne Tage.«
»Ein erfahrener Regierungsmann sieht so etwas voraus,aber was soll er denn machen? Wenn er die fremden Spione direkt befragen würde, die er ja übrigens nicht kennt, würden sie ihm nichts sagen. Also schickt er seine Spione mit irgendwelchen entbehrlichen Geheimnissen hin, und so erfährt er, was er wissen will, und was gewöhnlich alle außer ihm bereits wissen«, sagte Niketas.
»Unter diesen Mönchen war ein gewisser Zosimos aus Chalkedon. Er hatte ein unglaublich hageres Gesicht mit stechenden, wie Karfunkel glühenden Augen, die er immerfort rollte, einen langen schwarzen Bart und sehr langes Haar. Wenn er sprach, schien es immer, als redete er mit einem Gekreuzigten, der zwei Handbreit vor ihm verblutete.«
»Ich kenne den Typus, unsere Klöster sind voll davon. Sie sterben sehr jung, an Auszehrung ...«
»Der nicht. Ich habe im ganzen Leben noch nie einen solchen Schlemmer gesehen. Eines Abends nahm ich ihn auch mit ins Haus zweier venezianischer Kurtisanen, die, wie du vielleicht weißt, sehr berühmte Spezialistinnen des ältesten Gewerbes der Welt sind. Um drei Uhr nachts bin ich sternhagelvoll gegangen, aber er ist noch geblieben, und einige Zeit später sagte mir eines der Mädchen, sie hätten noch nie einen solchen Teufelskerl im Zaum halten müssen.«
»Ich kenne den Typus, unsere Klöster sind voll davon. Sie sterben sehr jung, an Auszehrung ...«
Baudolino und Zosimos waren wenn nicht Freunde, so doch Zechgenossen geworden. Angefangen hatte es damit, dass Zosimos nach einem ersten ausgiebigen Gelage einen grässlichen Fluch ausgestoßen und gesagt hatte, in jener Nacht würde er alle Opfer des Kindermordes von Bethlehem für ein Mädchen von loser Moral hingeben. Auf Baudolinos Frage, ob es das sei, was man in byzantinischen Klöstern lerne, hatte Zosimos geantwortet: »Wie Sankt Basilius gelehrt hat, gibt es zwei Dämonen, die den Verstand verwirren können: den der Unzucht und den des Fluchens. Aber der zweite wirkt nur kurzzeitig, und der erste, solange er die Gedanken nicht mit Leidenschaftaufwühlt, verhindert nicht die Kontemplation Gottes.« Sie waren sofort darangegangen, sich ohne Leidenschaft dem Dämon der Unzucht zu überlassen, und Baudolino war klargeworden, dass Zosimos für jede Lebenslage eine Sentenz irgendeines Theologen oder Eremiten hatte, die ihm erlaubte, sich in Frieden mit sich selbst zu fühlen.
Ein andermal waren sie noch beim Zechen, und Zosimos pries ausgiebig die Wunder Konstantinopels. Baudolino schämte sich, weil er nur von den engen Gassen in Paris erzählen konnte, die voller Unrat waren, den die Leute aus den Fenstern kippten, oder von den trägen Wassern des Tanaro, die nicht mit den goldenen der Propontis konkurrieren konnten. Auch konnte er nicht von den mirabilia urbis Mediolani sprechen, weil Friedrich sie alle hatte zerstören lassen. In seiner Not, um den Zechgenossen zu beeindrucken und zum Schweigen zu bringen, zeigte er ihm den Brief des Priesters Johannes, als wollte er ihm sagen, dass es wenigstens irgendwo auf der Erde ein Reich gab, vor dem das seine zu einem kargen Heideland verblasste.
Zosimos hatte kaum die erste Zeile des Briefes gelesen, da fragte er schon voller Misstrauen: »Presbyter Johannes? Wer soll das sein?«
»Das weißt du nicht?«
»Glücklich, wer zu jener Unwissenheit gelangt ist, über die hinaus man nicht gehen kann.«
»Du kannst darüber hinausgehen. Lies, lies.«
Er las, las mit seinen glühenden Augen, die immer glühender wurden, dann legte er das Pergament auf den Tisch und sagte scheinbar
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