Baudolino - Eco, U: Baudolino
schicken.«
»Und ihr entrollt ihn ins Wasser ...«
»Hör auf mit dem Quatsch, wir sind keine Mörder. Wenn ich dich umbringen wollte, würde ich dich jetzt nicht ohrfeigen. Aber sieh her, genau das tue ich jetzt, um mir eine Genugtuung zu verschaffen, denn mehr gedenke ich nicht zu tun.« Mit diesen Worten begann er in aller Ruhe, ihm zuerst eine und dann eine zweite Ohrfeige zu geben, abwechselnd mit der rechten und mit der linken Hand, so dass der Kopf einmal nach links und einmal nach rechts flog, und dann so weiterzuschlagen, zweimal mit der flachen Hand, zweimal mit gestreckten Fingern, zweimal mit dem Handrücken, zweimal mit der Handkante, zweimal mit geballter Faust, bis Zosimos veilchenblau anlief und Baudolinos Handgelenke sich fast verrenkten. Da sagte er: »Jetzt tut es mir weh, also höre ich auf. Gehen wir uns die Karte ansehen.«
Kyot und Abdul schleppten Zosimos unter den Armen, denn allein konnte er nicht mehr gehen, und er wies mit zitterndem Finger den Weg, wobei er murmelte: »Der Mönch, der verachtet wird und es aushält, ist wie eine Pflanze, die jeden Tag gegossen wird.«
Baudolino sagte zu dem Poeten: »Es war Zosimos, der mich eines Tages lehrte, dass der Zorn mehr als jede andere Leidenschaft die Seele aufwühlt, aber bisweilen auch hilft. In der Tat, wenn wir ihn in aller Ruhe gegen die Gottlosen und die Sünder einsetzen, um sie zu retten oder sie zu beschämen, dann verschaffen wir unserer Seele ein Wohlgefühl, denn wir befinden uns auf geradem Weg zur Gerechtigkeit.« Und Rabbi Solomon kommentierte: »Wie der Talmud sagt: Es gibt Züchtigungen, die alle Frevel eines Menschen abwaschen.«
21. Kapitel
Baudolino entdeckt die Wonnen von Byzanz
Das Kloster von Katabate war verfallen, und alle hielten es für eine unbewohnte Ruinenstätte, aber auf der Höhe des Bodens gab es noch einige Zellen, und die einstige Bibliothek, wenngleich ohne Bücher, war zu einer Art Refektorium geworden. Hier lebte Zosimos mit zwei oder drei Eleven, und Gott allein wusste, worin ihre mönchischen Übungen bestanden. Als Baudolino und die Seinen mit ihrem Gefangenen an der Oberfläche auftauchten, schliefen die Eleven bereits, aber sie waren, wie sich am nächsten Morgen herausstellen sollte, ohnehin benebelt genug von ihren Zechgelagen, um keine Gefahr darzustellen. So beschlossen unsere Freunde, in der Bibliothek zu schlafen. Zosimos hatte böse Träume, während er auf dem Boden zwischen Kyot und Abdul schlief, die mittlerweile seine Schutzengel geworden waren.
Am nächsten Morgen setzten sich alle um einen Tisch und forderten Zosimos auf, unverzüglich zur Sache zu kommen.
»Also gut, zur Sache denn«, sagte Zosimos. »Kosmas' Karte befindet sich im Bukoleon-Palast, an einem Ort, der mir bekannt ist und zu dem ich den Weg weiß. Wir werden heute am späten Abend hingehen.«
»Zosimos«, sagte Baudolino, »du zögerst die Sache ständig hinaus. Sag uns jetzt erstmal genau, was auf dieser Karte zu sehen ist.«
»Nun, ganz einfach«, antwortete Zosimos und nahm ein Pergament und einen Stift. »Ich sagte ja schon, dass jeder rechtgläubige Christ die Tatsache anerkennen muss, dass die Welt im ganzen, also das Universum, so geformt ist wie jenes Tabernaculum , um es für euch Lateiner zu sagen, vondem die Heiligen Schriften sprechen. Jetzt aufgepasst: Im unteren Teil dieses Heiligtums befand sich ein Tisch mit zwölf Schaubroten, je eines für jeden Monat des Jahres. Rings um den Tisch erhob sich ein Sockel, der den Okeanos darstellte, und rings um diesen Sockel war ein handbreiter Rahmen, der die Erde des Jenseits darstellte, wo sich im Osten das Irdische Paradies befindet. Der Himmel wurde durch die Wölbung dargestellt, die sich ganz auf die vier äußersten Enden der Erde stützt, aber zwischen Wölbung und Basis war der Schleier des Firmaments gespannt, hinter dem die himmlische Welt liegt, die wir erst am Jüngsten Tag von Angesicht zu Angesicht sehen werden. Denn, wie der Prophet Jesajas gesagt hat, Gott ist Der, welcher über der Erde thront, deren Bewohner wie Heuschrecken sind, Der, welcher den Himmel wie einen Schleier gespannt und wie ein Zelt ausgebreitet hat. Auch der Psalmist lobt Den, der den Himmel aufgespannt hat wie ein Zelt – und Zelt heißt ja in der Sprache von euch Lateinern tabernaculum . Alsdann hat Moses unter dem Schleier im Süden den Leuchter aufgestellt, der den ganzen Erdkreis erhellte, und darunter sieben Lampen zur Bezeichnung der sieben Wochentage und
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