Baudolino - Eco, U: Baudolino
gingen, sah Baudolino im Vorbeigehen durch ein Fenster in einen kahlen Hof zwischen hohen Mauern, in dem zahlreiche junge Männer angekettet am Boden lagen, und er erinnerte sich, wie Aloadin seine Häscher zum Morden erzog, indem er sie mit grünem Honig verhexte. In einen prächtigen Saal geführt, erblickten sie einen auf gestickten Kissen sitzenden Greis, der mindestens hundert Jahre alt sein musste. Er hatte einen weißen Bart, schwarze Augenbrauen und einen finsteren Blick. Schon gefürchtet und mächtig, als er vor fast einem halben Jahrhundert Abdul entführt hatte, war Aloadin immer noch da, um das Regiment über seine Sklaven zu führen.
Er musterte die Neuankömmlinge mit einem verächtlichen Blick, offenbar sah er gleich, dass diese Unglücklichen nicht für seine Mördertruppe taugten. Er würdigte sie keines Wortes, sondern gab nur einem seiner Diener einen gelangweilten Wink, als wollte er sagen: Macht mit ihnen, was ihr wollt. Seine Neugier erwachte erst, als er hinter ihnen den Skiapoden erblickte. Er ließ ihn vortreten, forderte ihn durch Gesten auf, den Fuß über den Kopf zu heben, und lachte. Die sechs Männer wurden abgeführt, und Gavagai blieb bei dem Alten.
So begann die lange Gefangenschaft von Baudolino, Boron, Kyot, Rabbi Solomon, Boidi und dem Poeten. Immerfort mit einer Eisenkette am Fuß, die in einer schweren Steinkugel endete, mussten sie Sklavenarbeit verrichten, manchmal die steinernen Böden und Wände schrubben, manchmal die Mühlsteine der Ölmühlen drehen, manchmal auch Widderviertel zu den Vögeln Roch bringen.
»Das waren«, erklärte Baudolino, »riesige Raubvögel, groß wie zehn Adler zusammen, mit einem scharfen Krummschnabel, mit dem sie in kürzester Zeit einenOchsen bis auf die Knochen vertilgen konnten. An den Füßen hatten sie Krallen, die den Rammspornen von Schlachtschiffen glichen. Sie wurden in einem großen Käfig hoch oben auf einem Turm gehalten, in dem sie auf Stangen saßen, immer voller Unruhe und bereit, jeden anzugreifen, der ihnen zu nahe kam – bis auf einen Eunuchen, der ihre Sprache zu sprechen schien und sich unbehelligt zwischen ihnen bewegte, als wäre er zwischen den Hühnern in seinem Hühnerhof. Er war auch der einzige, der sie als Aloadins Boten aussenden konnte: Er legte einem von ihnen robuste Ledergurte um Hals und Rücken, zog sie unter den Flügeln durch und befestigte daran einen Korb oder einen anderen Behälter, dann öffnete er ein Gitter, gab ein Kommando, und der so aufgezäumte Vogel – nur dieser eine – flog davon und verschwand am Himmel. Wir sahen auch manchmal, wie sie zurückkamen: Der Eunuch ließ sie herein und befreite sie von einem Beutelsack oder einem Metallzylinder, der offensichtlich eine Botschaft für den Burgherrn enthielt.«
Andere Male verbrachten die Gefangenen Tage und Tage mit Müßiggang, denn es gab nichts zu tun. Manchmal wurden sie beauftragt, demjenigen Eunuchen zu helfen, der den in Ketten liegenden jungen Männern den grünen Honig servierte, und dann erschraken sie, wenn sie die Gesichter sahen, entstellt von ihrem verzehrenden Traum. Aber wenn nicht ein Traum, so doch ein subtiles Sehnen verzehrte auch unsere Gefangenen, die sich die Zeit damit vertrieben, einander unentwegt von ihren Erlebnissen zu erzählen. Sie erinnerten sich an Paris, an Alexandria, an den fröhlichen Markt von Kalliupolis, an den heiteren Aufenthalt bei den Gymnosophisten. Sie sprachen vom Brief des Priesters Johannes, und der Poet, der sich jeden Tag mehr verfinsterte, schien die Worte des Diakons zu wiederholen, als hätte er sie mit eigenen Ohren gehört: »Der Zweifel, der mich zerfrisst, ist, dass es das Reich gar nicht gibt. Wer hat uns in Pndapetzim von ihm erzählt? Die Eunuchen. Zu wem sind die Boten zurückgekehrt, die sie zum Priester schickten? Zu ihnen , den Eunuchen. Waren diese Botenwirklich aufgebrochen? Waren sie wirklich zurückgekehrt? Der Diakon hatte seinen Vater niemals gesehen. Alles, was wir dort erfahren haben, haben wir von den Eunuchen erfahren. Vielleicht war alles nur ein Komplott der Eunuchen, die sich über den Diakon und uns lustig machten wie über den letzten Nubier oder Skiapoden. Manchmal frage ich mich sogar, ob die Weißen Hunnen überhaupt existiert haben ...« Baudolino sagte, er solle doch an ihre in der Schlacht gefallenen Kameraden denken, aber der Poet schüttelte nur den Kopf. Um sich nicht einzugestehen, dass er besiegt worden war, glaubte er lieber, einer
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