Baudolino - Eco, U: Baudolino
Lesen und kein Werkzeug zum Schreiben hatte, verbrachte er seine Tage damit, den Namen des Herrn zu wiederholen, und jedes Mal war es ein anderer Klang. Er hatte die noch verbliebenen Zähne verloren, sein Mund war jetzt auf beiden Seiten zahnlos. Er aß mümmelnd und sprach nuschelnd. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass die zehn verstreuten Stämme nicht in einem Reich bleiben konnten, das zur Hälfte von Nestorianern bewohnt war – die ja noch angehen mochten, denn auch für die Juden konnte die gute Frau Maria unmöglich einen Gott geboren haben –, aber zur anderen Hälfte von Götzenanbetern, die je nach Lust und Laune die Zahl ihrer Götter vermehrten oder verringerten. Nein, sagte er sich ungetröstet, vielleicht sind die zehn Stämme durch das Reich gezogen und haben danach wieder angefangen, in der Welt umherzuschweifen. Wir Juden suchen immer nach einem Gelobten Land, sofern es nur anderswo ist, und wer weiß, wo sie jetzt sein mögen, vielleicht sind sie ganz in der Nähe von diesem Ort, wo ich dabei bin, meine Tage zu beenden, aber ich habe alle Hoffnung verloren, ihnen zu begegnen. Erdulden wir die Prüfungen, die uns der Herr, heilig immerdar sei der Gesegnete, schickt. Hiob hat Schlimmeres erlebt.
»Er war mit dem Kopf woanders, das sah man ihm an. Und mit dem Kopf woanders schienen mir auch Boron und Kyot zu sein, die ständig über jenen Gradal phantasierten, den sie zu finden hofften, ja den sie inzwischen sicher waren zu finden, und je mehr sie von ihm redeten, desto wunderbarer wurden seine ohnehin schon wunderbaren Kräfte und desto heftiger träumten sie davon, ihn zu besitzen. Der Poet wiederholte in einem fort: Lasst mich nur Zosimos zu fassen kriegen, dann werde ich zum Herrn der Welt. Vergesst Zosimos, sagte ich: Er ist nicht einmal bis nach Pndapetzim gelangt, vielleicht hat er sich unterwegs verirrt, sein Skelett verstaubt irgendwo an einem staubigen Ort, seinen Gradal haben sich ungläubige Nomaden genommen, die ihn vielleicht als Nachttopf benutzen. Sei still, sei still, sagte Boron erbleichend.«
»Wie habt ihr's geschafft, aus dieser Hölle zu entkommen?« fragte Niketas.
»Eines Tages sagte uns Gavagai, er habe den Fluchtweg gefunden. Der arme Gavagai, auch er war inzwischen gealtert. Ich weiß nicht, wie alt Skiapoden werden, aber er war nicht mehr sich selbst voraus, wie der Blitz. Er kam eher wie der Donner, ein bisschen hinterher, und nach dem Lauf keuchte er.«
Der Plan war folgender: Man musste den Eunuchen, der das Amt des Vogel-Roch-Wärters versah, mit Waffengewalt überraschen, ihn zwingen, die Vögel wie gewohnt aufzuzäumen, aber so, dass die Ledergurte, die ihr Transportgut sicherten, um die Hüften der Flüchtlinge gebunden wurden. Dann musste er den Vögeln befehlen, nach Konstantinopel zu fliegen. Gavagai hatte mit dem Wärter gesprochen und erfahren, dass die Vögel oft dorthin geschickt wurden, immer zu einem Agenten Aloadins, der auf einem Hügel bei Pera wohnte. Sowohl Baudolino als auch Gavagai verstanden die Sarazenensprache und konnten überprüfen, ob der Wärter den richtigen Befehl gab. Einmal ans Ziel gelangt, würden die Vögel von selbst zur Landung ansetzen. »Wieso ich bloß nicht gleich daran gedacht?« sagte Gavagai und klopfte sich drollig mit den Fäusten an die Stirn.
»Na schön«, sagte Baudolino, »aber wie können wir mit einer Kette am Fuß fliegen?«
»Ich besorg Feile«, sagte Gavagai.
In der Nacht holte Gavagai die Waffen und das Gepäck der Gefangenen und brachte sie in den Schlafsaal. Die Schwerter und Dolche waren ein bisschen verrostet, aber sie verbrachten die folgenden Nächte damit, sie zu reinigen und zu schärfen, indem sie sie an den Steinen der Wände rieben. Dann bekamen sie die Feile. Sie taugte nicht viel, und sie brauchten Wochen, um die Ringe, mit denen die Ketten an ihren Knöcheln befestigt waren, bis auf einen dünnen Rest durchzufeilen. Aber schließlich gelang es ihnen, sie banden die brüchigen Ringe mit einem Bindfaden an die Kette, und so sah es aus, als bewegten sie sich wie üblich behindert durch die Burg. Wer genau hinsah, hätte den Betrug freilich entdecken können, aber sie waren schon so lange dort, dass niemand genau hinsah, und die Kynokephalen betrachteten sie inzwischen als eine Art Haustiere.
Eines Abends erfuhren sie, dass sie am nächsten Tag einige Säcke mit schlecht gewordenem Fleisch aus der Küche abholen und zu den Vögeln bringen sollten. Gavagai brachte ihnen die Nachricht
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