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Baudolino - Eco, U: Baudolino

Titel: Baudolino - Eco, U: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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raffinierten Täuschung zum Opfer gefallen zu sein.
    Immer wieder kamen sie auch auf den Tag zurück, an dem Friedrich gestorben war, und jedes Mal erfanden sie eine neue Erklärung für diesen unerklärlichen Tod. Zosimos war es gewesen, klar. Nein, Zosimos hatte den Gradal gestohlen, aber erst hinterher. Jemand anders musste vorher tätig geworden sein, in der Hoffnung, den Gradal an sich zu bringen. Ardzrouni? Wer konnte das wissen? Einer ihrer gefallenen Kameraden? Was für ein grässlicher Gedanke. Einer von ihnen? Ja Herr im Himmel, rief Baudolino, müssen wir denn in all unserem Unglück auch noch die Qualen der gegenseitigen Verdächtigung erleiden?
     
    »Solange wir erwartungsvoll nach dem Reich des Priesters suchten, waren uns nie solche Zweifel gekommen. Jeder half dem anderen im Geiste der Freundschaft. Es war die Gefangenschaft, die uns unleidlich machte, wir konnten einander nicht mehr in die Augen sehen, und jahrelang haben wir uns gegenseitig gehasst. Ich lebte in mich zurückgezogen. Ich dachte an Hypatia, aber es gelang mir nicht, mich an ihr Gesicht zu erinnern, ich erinnerte mich nur an die Freude, die sie mir gab. Nachts kam es vor, dass ich die Hände unruhig auf meinem Schamhaar bewegte und dabei träumte, ihr nach Moschus duftendes Vlies zu berühren. Ich konnte mich erregen, denn während der Geist sich in Träumereien verlor, erholte sich unser Körper allmählich von den Auswirkungen unserer Irrfahrt. Wir wurden nicht schlecht ernährt dort oben, wir bekamenzweimal am Tag reichlich zu essen. Vielleicht war das die Art, wie Aloadin uns ruhig hielt, nachdem er uns nicht an den Mysterien des grünen Honigs teilhaben lassen wollte. Tatsächlich kamen wir wieder zu Kräften, aber trotz der harten Arbeit, die wir verrichten mussten, wurden wir dick. Ich sah auf meinen wohlgerundeten Bauch und sagte zu mir: Du bist schön, Baudolino, sind alle Menschen so schön wie du? Dann lachte ich wie ein Blöder.«
    Einziger Trost waren die Momente, in denen sie Besuch von Gavagai bekamen. Ihr Freund war Aloadins Hofnarr geworden, er amüsierte den Alten mit seinen unvermuteten Bewegungen, leistete ihm kleine Dienste, indem er durch Säle und Korridore flitzte, um seine Befehle zu überbringen, hatte Sarazenisch gelernt (das er so ähnlich sprach wie sein Griechisch) und genoss viele kleine Freiheiten. Er brachte seinen Freunden manchmal Leckerbissen aus der Küche des Herrn, hielt sie auf dem Laufenden über die Geschehnisse in der Burg, über die verdeckten Kämpfe zwischen den Eunuchen um die Gunst des Herrn und über die mörderischen Missionen, zu denen die halluzinierenden Jünglinge ausgesandt wurden.
    Einmal brachte er Baudolino etwas grünen Honig, nur ganz wenig, sagte er, sonst würde er sich so zurichten wie diese mörderischen Bestien. Baudolino nahm davon und erlebte eine Liebesnacht mit Hypatia. Doch gegen Ende des Traums verwandelte sich die Gestalt der Geliebten: Sie bekam schöne glatte weiße Beine, wie sie die Menschenfrauen haben, und einen Ziegenkopf.
    Eines Tages sagte Gavagai den Gefangenen, dass ihre Waffen und ihre Reisesäcke in einer Kammer lagen und dass er sie holen könne, wenn sie eine Flucht versuchen wollten. »Ja glaubst du denn wirklich, Gavagai, dass wir eines Tages von hier fliehen können?« fragte ihn Baudolino. »Ich glaube ja. Ich glaube, gibt viele gute Arten von Flucht. Muss nur rausfinden, welche beste. Aber du werden dick wie Eunuche, und wenn dick, du schlecht fliehen. Du muss Körper bewegen, wie ich, du halte Fuß über Kopf, dann du werden sehr schnell.«
    Den Fuß hielt sich Baudolino nicht über den Kopf, aberer begriff, dass die Hoffnung auf eine Flucht, sei sie auch vergeblich, ihm helfen würde, die Gefangenschaft zu ertragen, ohne verrückt zu werden, und so bereitete er sich darauf vor, indem er die Arme streckte und Kniebeugen machte, bis er erschöpft auf seinen wohlgerundeten Bauch fiel. Er empfahl es auch den anderen, und mit dem Poeten übte er Kampfbewegungen; bisweilen verbrachten sie ganze Nachmittage mit dem Versuch, sich gegenseitig zu Boden zu werfen. Mit der Kette am Fuß war das nicht leicht, und sie hatten ihre einstige Gelenkigkeit verloren. Nicht nur wegen der Gefangenschaft. Es war das Alter. Aber die Bewegung tat ihnen gut.
    Der einzige, der seinen Körper völlig vergaß, war Rabbi Solomon. Er aß nur sehr wenig und war zu schwach für die verschiedenen Arbeiten, so dass die Freunde seinen Teil übernahmen. Da er keine Buchrolle zum

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