Baudolino - Eco, U: Baudolino
seltsame Drohungen angedeutet.«
»Uns gegenüber auch«, sagten Kyot und Boron.
Plötzlich hörten sie eine Stimme, und sie schien aus dem Mund des Pantokrators auf der Ikonostase zu kommen. Baudolino sah genauer hin und entdeckte, dass die Augen jenes Weltenherrschers zwei schwarze Mandeln waren, was darauf schließen ließ, dass jemand hinter der Ikone stand und das Geschehen in der Krypta beobachtete. Obgleich entstellt, war die Stimme erkennbar – es war die des Poeten. »Willkommen«, sagte sie. »Ihr seht mich nicht, aber ich sehe euch. Ich habe einen Bogen, und ich könnte euch auf der Stelle durchbohren, wenn ich wollte.«
»Aber wieso denn, Poet, was haben wir denn getan?« fragte Boron erschrocken.
»Was ihr getan habt, wisst ihr besser als ich. Aber kommen wir zur Sache. Tritt hervor, Elender.« Man hörte ein ersticktes Stöhnen, und hinter der Ikonostase trat eine schwankende Gestalt hervor.
Obwohl es so viele Jahre her war, obwohl die Gestalt sich krumm und gebeugt dahinschleppte, obwohl die Haare und der Bart inzwischen schlohweiß waren, erkannten sie Zosimos.
»Jawohl, es ist Zosimos«, sagte die Stimme des Poeten. »Ich bin ihm gestern ganz zufällig begegnet, während er bettelnd eine Straße entlangging. Er ist blind und verkrüppelt, aber er ist es. Zosimos, erzähle unseren Freunden, wie es dir ergangen ist seit deiner Flucht aus Ardzrounis Burg.«
Mit klagender Stimme begann Zosimos zu erzählen. Ja, er hatte den Täuferkopf gestohlen, in dem der Gradal versteckt war, und hatte sich mit ihm davongemacht, aber eine Karte von Kosmas hatte er nicht nur niemals besessen, sondern auch nie gesehen, und so hatte er nicht gewusst, wohin er sich wenden sollte. Er war umhergezogen, bis ihm das Maultier gestorben war, er hatte sich durch die unwirtlichsten Gegenden der Welt geschleppt, die Augen brennend von der Sonnenglut, so dass er die Himmelsrichtungen nicht mehr unterscheiden konnte. Dann war er in eine von Christen bewohnte Stadt gekommen, wo er Hilfe und Aufnahme fand. Er hatte sich als der letzte der Magier vorgestellt, die anderen hätten inzwischen den Frieden des Herrn gefunden und ruhten in einer Kirche im fernen Abendland. Er hatte in feierlichem Ton erklärt, in seinem Reliquiar befinde sich der Heilige Gradal, den er dem Priester Johannes übergeben müsse. Seine Gastgeber hatten gerüchteweise von beidem gehört, sie warfen sich ihm zu Füßen und führten ihn dann in feierlicher Prozession zu ihrem Tempel. Dort nahm er auf einem Bischofsschemel Platz und sprach jeden Tag Orakel, gab Ratschläge über den Gang der Dinge, aß und trank nach Herzenslust und wurde allseits geachtet.
Kurzum, als letzter der allerheiligsten Könige und Hüterdes Heiligen Gradals war er zur höchsten geistlichen Autorität jener Gemeinde geworden. Jeden Morgen las er die Messe, und im Moment der Elevation zeigte er außer Hostie und Kelch auch sein kopfförmiges Reliquiar, und die Gläubigen knieten nieder und meinten, himmlische Düfte zu riechen.
Sie brachten auch die gefallenen Frauen zu ihm, damit er sie auf den rechten Weg zurückbringe. Er sagte ihnen, dass Gottes Barmherzigkeit grenzenlos sei, und versammelte sie zur Abendzeit in der Kirche, um mit ihnen, wie er sagte, in ununterbrochenem Gebet die Nacht zu verbringen. Es hieß, er habe diese Unseligen in lauter Magdalenen verwandelt, die sich in seinen Dienst gestellt hätten. Tagsüber bereiteten sie ihm die köstlichsten Speisen, brachten ihm die erlesensten Weine und salbten ihn mit duftenden Ölen; nachts beteten sie mit ihm so inbrünstig vor dem Altar, sagte Zosimos, dass seine Augen am nächsten Morgen gerötet waren von dieser Buße. Zosimos hatte endlich sein Paradies gefunden und war entschlossen, diesen gesegneten Ort nie mehr zu verlassen.
Er hielt in seiner Erzählung inne und seufzte tief auf, dann fuhr er sich mit der Hand über die Augen, als sähe er in deren Dunkel immer noch eine höchst schmerzliche Szene vor sich. »Meine Freunde«, sagte er, »bei jedem Gedanken, der euch kommt, fragt ihn stets: Bist du einer der Unseren oder kommst du vom Feind? Ich vergaß, diese heilige Maxime zu befolgen, und versprach der ganzen Stadt, zu Ostern das Reliquiar zu öffnen und den Gradal zu zeigen. Am Karfreitag öffnete ich den Kopf für mich allein und fand darin einen jener widerwärtigen Totenschädel, die Ardzrouni hineingetan hatte. Ich schwöre es euch: Ich hatte den Gradal im ersten Kopf links versteckt, und genau den ersten
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