Baudolino - Eco, U: Baudolino
links hatte ich dann genommen, als ich mich aus der Burg davonmachte. Aber irgendwer, sicher einer von euch, muss die Köpfe vertauscht haben, denn der, den ich genommen hatte, enthielt nicht mehr den Gradal. Wer ein Eisen schmiedet, überlege sich vorher, was er daraus machen will, ob eine Sichel, ein Schwert oder eine Axt. Ich beschloss zu schweigen. Pater Agaton hat drei Jahre miteinem Stein im Munde gelebt, bis es ihm nicht mehr gelang, sein Schweigegelübde zu halten. Ich sagte allen, ich sei von einem Engel des Herrn besucht worden, der mir gesagt habe, es lebten noch zu viele Sünder in der Stadt und darum sei noch niemand würdig, jenen hochheiligen Gegenstand zu sehen. Den Karsamstagabend verbrachte ich, wie es sich für einen ehrbaren Mönch gehört, in frömmster Kasteiung, vielleicht in übertriebener, denn am nächsten Morgen fühlte ich mich total erschöpft, als hätte ich die ganze Nacht – Gott vergebe mir den bloßen Gedanken – mit Saufen und Huren verbracht. Ich zelebrierte die Messe schwankend, und in dem feierlichen Moment, in dem ich das Reliquiar den Gläubigen zeigen sollte, stolperte ich auf der obersten Stufe des Altars und stürzte hinunter. Das Reliquiar glitt mir aus der Hand, beim Aufprall am Boden sprang es auf, und alle sahen, dass es keineswegs einen Gradal enthielt, sondern bloß einen verschrumpelten Schädel. Nichts ist ungerechter als die Strafe für den Gerechten, der einmal gesündigt hat, meine Freunde, denn dem schlimmsten der Sünder vergibt man die letzte der Sünden, aber dem Gerechten nicht einmal die erste. Die frommen Leute meinten, sie seien von mir betrogen worden – von mir, der noch bis vor drei Tagen, Gott war mein Zeuge, in treuestem Glauben gehandelt hatte! Sie fielen über mich her, rissen mir die Kleider vom Leibe, prügelten mich derart mit Stöcken, dass ich seither an Armen, Beinen und Rücken verkrüppelt bin, dann schleppten sie mich vor ihr Gericht, wo beschlossen wurde, mir die Augen auszustechen. Sie jagten mich aus der Stadt wie einen räudigen Hund. Ihr wisst nicht, wie ich gelitten habe. Ich zog als Bettler umher, blind und verkrüppelt, und so, verkrüppelt und blind, wurde ich nach Jahren des Umherirrens von einer sarazenischen Handelskarawane aufgelesen und hierher nach Konstantinopel gebracht. Die einzige Nächstenliebe, die ich erfahren habe, ist mir von Ungläubigen zuteil geworden, Gott vergelte es ihnen, indem er ihnen die eigentlich verdiente Verdammnis erspart. So bin ich vor einigen Jahren in diese meine Stadt zurückgekehrt, wo ich seither von Almosen lebe, und es war ein Glück, dass micheines Tages eine gute Seele an die Hand genommen und zu den Ruinen dieses Klosters geführt hat, wo ich tastend die Orte wiedererkenne und seither die Nächte verbringe, geschützt vor Kälte, Hitze und Regen.«
»Das ist Zosimos' Geschichte«, sagte die Stimme des Poeten. »Sein Zustand bezeugt, für einmal wenigstens, seine Aufrichtigkeit. Also muss ein anderer von uns, der gesehen hat, wie er den Gradal versteckte, die Köpfe vertauscht haben, um Zosimos in sein Verderben laufen zu lassen und jeden Verdacht von sich abzulenken. Aber dieser andere, der den richtigen Kopf genommen hat, ist derselbe, der Friedrich umgebracht hat. Und ich weiß, wer es ist.«
»Poet«, rief Kyot aus, »warum sagst du das? Warum hast du nur uns drei hierherbestellt und nicht auch Baudolino? Warum hast du uns nichts davon bei den Genuesern gesagt?«
»Ich habe euch hierherbestellt, weil ich diesen Krüppel nicht durch eine vom Feind eroberte Stadt schleppen konnte. Weil ich nicht vor den Genuesern sprechen wollte und schon gar nicht vor Baudolino. Baudolino hat mit unserer Geschichte nichts mehr zu tun. Einer von euch wird mir den Gradal geben, und das wird allein meine Sache sein.«
»Warum meinst du nicht, dass Baudolino den Gradal hat?«
»Baudolino kann Friedrich nicht getötet haben. Er hat ihn geliebt. Baudolino hatte auch kein Interesse daran, den Gradal zu stehlen, er war der einzige von uns, der ihn wirklich zum Priester Johannes bringen wollte, im Namen des Kaisers. Und schließlich, erinnert euch, was mit den sechs Täuferköpfen passiert ist, die nach Zosimos' Flucht übriggeblieben sind: Jeder von uns hatte einen genommen, Baudolino, Boron, Kyot, der Boidi, Abdul und ich. Ich habe meinen gestern nach meiner Begegnung mit Zosimos geöffnet. Es war ein geräucherter Schädel darin. Was den von Abdul angeht, ihr erinnert euch sicher: Ardzrouni hatte ihn
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