Baudolino
Buchten, um nicht von den Gebirgen zu reden, gemäß der wunderbaren Zeichnung des Tabernakels.«
»Das Argument überzeugt mich noch nicht«, sagte Baudolino.
»Daß sie glauben, in einem Tabernakel zu leben, muß ja nicht heißen, daß sie wirklich in einem leben.«
»Laß mich meinen Gedanken zu Ende führen. Wenn du mich
fragen würdest, wie man in meine Geburtsstadt Chalkedon gelangt, könnte ich es dir sehr gut erklären. Dabei kann es sein, daß ich die Länge der Reise anders bestimme als du oder daß ich rechts nenne, was du links nennst übrigens habe ich gehört, daß die Sarazenen Karten zeichnen, auf denen Süden oben und Norden unten ist, so daß die Sonne links von den dargestellten Ländern aufgeht. Aber wenn du die Art, wie ich den Lauf der Sonne und die Form der Erde, darstelle, akzeptierst und meinen Angaben folgst, wirst du mit Sicherheit dort ankommen, wo ich dich hinschicken will, während du sie nicht verstehen würdest, wenn du. dich an deine Karten hieltest. Folglich«, schloß Zosimos triumphierend, »wenn du das Land des Priesters
Johannes erreichen willst, mußt du die Weltkarte benutzen, die der Priester Johannes benutzen würde, und nicht deine - und das wohlgemerkt auch dann, wenn deine richtiger wäre als seine!«
Baudolino war beeindruckt vom Scharfsinn der
Beweisführung und bat Zosimos, ihm zu erklären, wie denn Kosmas und mithin der Priester Johannes die Welt sahen. »Ach nein«, antwortete Zosimos, »wo die Karte zu finden ist, weiß ich wohl, aber warum soll ich sie dir und deinem Kaiser geben?«
»Es sei denn, er gibt dir soviel Geld, daß du mit einer Truppe gutbewaffneter Männer aufbrechen kannst.«
»Genau.«
Von diesem Moment an ließ sich Zosimos kein Wort mehr
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über Kosmas' Karte entlocken, er machte nur hin und wieder, wenn er betrunken war, vage Andeutungen, wozu er mit dem Finger mysteriöse Kurven in die Luft zeichnete, aber dann brach er ab, als hätte er schon zuviel gesagt. Baudolino schenkte ihm Wein nach und stellte ihm scheinbar ausgefallene Fragen: »Aber wenn wir nahe bei Indien sind und unsere Pferde nicht mehr weiterkönnen, müssen wir dann auf Elefanten reiten?«
»Vielleicht«, sagte Zosimos, »denn in Indien leben alle Tiere, die in deinem Brief genannt werden, und noch ein paar mehr, nur keine Pferde. Aber sie haben trotzdem welche, denn sie lassen sie aus Tzinistan kommen.«
»Und was ist das für ein Land?«
»Ein Land, in das die Reisenden gehen, um Seidenwürmer zu jagen.«
»Seidenwürmer? Was soll denn das sein?«
»Nun, in Tzinistan gibt es kleine Eier, die werden den Frauen an den Busen gelegt, und wenn sie in der Wärme dort
ausgebrütet sind, kriechen kleine Würmer heraus. Diese werden auf Maulbeerblätter gelegt, von denen sie sich ernähren. Wenn sie erwachsen sind, ziehen sie aus ihrem Körper Seidenfäden und spinnen sich darin ein, als lägen sie in einem Grab. Dann verwandeln sie sich in wunderschöne bunte Schmetterlinge und schlüpfen aus dem Kokon. Bevor sie wegfliegen, dringen die Männchen von hinten in die Weibchen ein, und beide leben ohne Nahrung allein von der Wärme ihrer Liebe, bis sie sterben, und sterbend legt das Weibchen seine Eier.«
»Einem Mann, der dir weismachen will, daß Seide aus
Würmern gewonnen wird, war wirklich nicht zu trauen«, sagte Baudolino zu Niketas. »Er machte den Spitzel für seinen Basileus, aber auf die Suche nach dem Herrn der drei Indien wäre er auch im Solde Friedrichs gegangen. Dann allerdings, wenn er dort angelangt wäre, hätten wir ihn nie wiedergesehen.
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Und doch, seine Andeutungen über die Karte des Kosmas
hatten mich in Erregung versetzt. Diese Karte erschien mir wie der Stern Bethlehems, nur daß sie in die entgegengesetzte Richtung wies. Sie würde mir zeigen, wie ich den Weg der Magier zurückgehen könnte. Und so bemühte ich mich im
Glauben, ich sei gerissener als er, ihn zu noch größerer Zügellosigkeit anzutreiben, um ihn noch betrunkener und redseliger zu machen.«
»Aber?«
»Aber er war gerissener als ich. Am nächsten Tag fand ich ihn nicht mehr vor, und seine Mitbrüder sagten, er sei nach Konstantinopel abgereist. Er hatte mir eine Grußbotschaft hinterlassen. Sie lautete: ›Wie Fische sterben, wenn sie auf dem Trockenen liegenbleiben, so verlieren Mönche, die sich zu lange außerhalb ihrer Zelle aufhalten, die Lebenskraft der Vereinigung mit Gott. In den letzten Tagen bin ich in der Sünde
ausgetrocknet, laß mich die Frische
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