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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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erleuchtet waren, haben sich die Antipoden ausgedacht, während in der Apostelgeschichte steht, daß Gott aus einem einzigen Menschen die ganze Menschheit geschaffen hat, auf daß sie das Antlitz der Erde bewohne - das Antlitz, nicht irgendeinen anderen Teil, der nicht existiert. Und im Evangelium des Lukas steht, daß der Herr den Aposteln die Macht gegeben hat, über Schlangen und Skorpione zu gehen - und gehen heißt auf etwas
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    gehen, nicht unter etwas. Im übrigen, wenn die Erde eine Kugel wäre und im Leeren schwebte, hätte sie weder ein Oben noch ein Unten, und folglich gäbe es auf ihr keine Richtung des Gehens und nicht mal ein Gehen in irgendeiner Richtung. Wer hat gesagt, daß der Himmel aus Sphären bestehe, also eine Kugel sei? Die chaldäischen Sünder auf der Spitze des Turms zu Babel - soweit sie ihn haben errichten können -, verblendet durch den Schrecken, den ihnen der nahe Himmel eingejagt hatte! Welcher Pythagoras und welcher Aristoteles hat es vermocht, die Auferstehung der Toten vorauszusehen? Und solchen Ignoranten soll es gelungen sein, die wahre Form der Erde zu begreifen? Diese kugelförmige Erde soll dazu helfen, sagen sie, den genauen Zeitpunkt des Sonnenauf- und -
    untergangs vorauszubestimmen, oder auf welchen Tag Ostern fällt? So ein Unsinn, wo doch ganz einfache Leute, die weder Philosophie noch Astronomie studiert haben, sehr gut wissen, wann die Sonne auf- und untergeht, je nach den Jahreszeiten, und Ostern in den verschiedenen Ländern nach derselben
    Methode berechnet wird, ohne daß man sich irrt? Wozu braucht man eine andere Geographie als jene, die ein guter Zimmermann kennt, und eine andere Astronomie als jene, nach welcher der Bauer weiß, wann er säen und wann er ernten muß? Und
    übrigens, von welchen antiken Philosophen redest du
    überhaupt? Kennt ihr Lateiner den Xenophanes von Kolophon, der die Erde zwar als unendlich, aber nicht kugelförmig ansah?
    Die Ignoranten werden sagen, wenn man das Universum als Tabernakel ansehe, könne man die Eklipsen und Äquinoktien nicht erklären. Nun, in unserem Romäerreich hat vor
    Jahrhunderten ein großer Weiser gelebt, Kosmas Indikopleustes, der bis an die Grenzen der Welt gereist ist, und der hat in seiner Christlichen Topographie unwiderleglich bewiesen, daß die Erde tatsächlich die Form eines Tabernakels hat und daß gerade die unklarsten Phänomene nur so zu erklären sind. Willst du, daß der christlichste aller Könige, ich meine Johannes, sich nicht
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    an die christlichste aller Topographien hält, die nicht nur die des Kosmas ist, sondern auch die der Heiligen Schrift?«
    »Ich sage dir, mein Priester Johannes weiß nichts von der Topographie deines Kosmas.«
    »Du selber hast mir gesagt, daß Johannes ein Nestorianer ist.
    Nun hatten die Nestorianer eine dramatische Diskussion mit anderen Häretikern, den Monophysiten. Für die Monophysiten war die Erde wie eine Kugel, für die Nestorianer wie ein Tabernakel geformt. Man weiß, daß Kosmas ebenfalls
    Nestorianer war und jedenfalls Anhänger des Lehrers von Nestorios, Theodoros von Mopsuestia, und daß er sein Leben lang gegen die monophysitische Häresie des Johannes
    Philoponos aus Alexandria kämpfte, der heidnischen
    Philosophen wie Aristoteles folgte. Kosmas ein Nestorianer, der Priester Johannes ein Nestorianer - beide können gar nicht anders, als fest an die tabernakelförmige Erde zu glauben.«
    »Moment mal. Sowohl dein Kosmas wie auch mein Priester
    sind Nestorianer, keine Frage. Aber wenn man bedenkt, daß die Nestorianer, soweit ich weiß, sich über Jesus und seine Mutter getäuscht haben, dann könnten sie sich doch auch über die Form der Erde getäuscht haben. Oder nicht?«
    »Ha, paß auf, jetzt kommt mein subtilstes Argument! Ich werde dir beweisen, daß du - wenn du den Priester Johannes finden willst - in jedem Fall gut daran tust, dich an Kosmas zu halten und nicht an die heidnischen Topographen. Nehmen wir für einen Augenblick an, Kosmas habe sich getäuscht und falsche Dinge geschrieben. Auch wenn dem so wäre, werden diese Dinge gleichwohl von allen Völkern des Orients, die Kosmas besucht hat, geglaubt und für wahr gehalten, sonst hätte er sie nicht in den Ländern gehört, hinter denen das Reich des Priesters Johannes liegt, und zweifellos denken die Bewohner jenes Reiches, daß die Welt tabernakelförmig ist, und
    bestimmen die Entfernungen, die Grenzen, den Lauf der Flüsse,
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    die Ausdehnung der Meere, die Küsten und

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