Baudolino
Deckengewölbe, dessen oberer Teil unseren Augen durch den Schleier des Firmaments verborgen bleibt. Darunter erstreckt sich die Ökumene, das heißt die bewohnte Welt, also die ganze Erde, auf der wir leben, aber die ist nicht flach, sondern ruht auf dem Okeanos, der sie umgibt, und sie steigt über einen unmerklich und kontinuierlich ansteigenden Hang zum äußersten Norden und zum Westen auf, wo sich ein
Gebirge erhebt, so hoch, daß sein Vorhandensein unseren Augen entgeht und sein Gipfel mit den Wolken verschmilzt. Die Sonne und der Mond, die von den Engeln bewegt werden - denen wir auch den Regen, die Erdbeben und alle anderen
atmosphärischen Phänomene verdanken -, ziehen morgens von Osten nach Süden, vorn vor dem Berg vorbei, so daß sie die Erde erhellen, und dann bewegen sie sich von Süden nach Westen, um abends hinter dem Berg zu verschwinden, so daß wir den Eindruck haben, sie gingen unter. Wenn es also bei uns Nacht wird, wird es auf der anderen Seite des Berges Tag, aber diesen Tag kann niemand sehen, denn die andere Seite des Berges ist Wüste, und niemand ist je dort gewesen.«
»Und mit dieser Zeichnung sollen wir das Land des Priesters Johannes finden?« fragte Baudolino. »Zosimos, ich warne dich.
Unser Pakt heißt, dein Leben für eine gute Karte, aber wenn die Karte schlecht ist, dann steht es auch schlecht für dein Leben.«
»Beruhige dich, beruhige dich. Da bei einer Darstellung des Tabernakels, so wie es ist, unsere Kunst nicht alles zu zeigen vermag, was von seinen Wänden und von dem Gebirge verdeckt wird, hat Kosmas noch eine andere Karte gezeichnet, die die Erde so zeigt, wie wir sie von oben sähen, wenn wir am
Firmament flögen, oder wie vielleicht die Engel sie sehen. Diese Karte, die im Bukoleon aufbewahrt wird, zeigt die Lage der Länder, die wir kennen, eingerahmt vom Okeanos, und jenseits
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des Okeanos die Länder, in denen die Menschen vor der Sintflut lebten, die aber seit Noah niemand mehr gesehen hat.«
»Noch einmal, Zosimos«, sagte Baudolino und machte ein
strenges Gesicht, »wenn du meinst, du kannst uns mit Dingen kommen, die du uns nicht sehen läßt...«
»Aber diese Dinge, die sehe ich, als ob sie hier vor meinen Augen wären, und bald werdet auch ihr sie sehen.«
Mit seinem hageren, abgezehrten Gesicht, das durch die
erbarmungswürdigen blauen Flecken und Blutergüsse noch
leidender aussah, und seinen glühenden Augen, erleuchtet von Dingen, die nur er sah, wirkte Zosimos auch für diejenigen überzeugend, die ihm mißtrauten. Dies war seine Stärke, erläuterte Baudolino Niketas, so habe er ihn schon einmal an der Nase herumgeführt, so habe er es auch diesmal getan, und so sei es ihm auch noch einige Jahre lang weiter gelungen. Er war so eifrig im Überzeugen und so in Fahrt, daß er sogar noch vorführen wollte, wie sich mit Hilfe von Kosmas' Tabernakel auch die Sonnenfinsternisse erklären ließen, aber die
Sonnenfinsternisse interessierten Baudolino nicht. Was
Baudolino überzeugte, wai daß man mit der richtigen Karte vielleicht tatsächlich au die Suche nach dem Priester gehen konnte. »Also gut« sagte er, »warten wir auf den Abend.«
Zosimos ließ einen seiner Eleven Gemüse und Obst
auftischen, und als der Poet fragte, ob es nichts andere gebe, antwortete er: »Ein karges Mahl, gleichförmig geregelt, führt den Mönch auf schnellstem Wege in den Hafen seiner
Unverletzbarkeit.«
Der Poet wünschte ihn zum Teufel, aber als er dann sah, daß Zosimos mit großem Appetit aß, schaute er unter dessen
Gemüse nach und entdeckte, daß seine Spießgesellen dort nur für ihn ein paar schön Stücke fettes Lammfleisch versteckt hatten. Ohne ein Wort zu sagen, wechselte er die Teller aus.
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Sie richteten sich gerade darauf ein, den Tag mit Warten zu verbringen, als einer der Eleven ganz aufgeregt herein gestürzt kam und berichtete, was geschehen war. In der Nacht, sofort nach dem Ritus, sei Stephanos Hagiochristophorites mit einer Handvoll Bewaffneter zum Hause von Isaakios Angelos geeilt, das nahe beim Peribleptoskloster lag, habe laut nach seinem Feind gerufen und ihn aufgefordert herunterzukommen, und als das nichts half, habe er seine Leute angeschrien, sie sollten die Türe einschlagen, Isaakios am Bart packen und kopfüber die Treppe herunterzerren. Daraufhin beschloß Isaakios, so
unentschlossen und ängstlich er allgemein galt, alles auf eine Karte zu setzen: Er sprang im Hof auf ein Pferd und preschte, das Schwert gezückt,
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