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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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gegangen, weil die Satyrn keine Eindringlinge mochten. »Was denken die Satyrn?« fragte Baudolino, und Gavagai antwortete, sie dächten noch schlechter als alle anderen, denn sie seien der Meinung, es habe niemals eine Ursünde gegeben. Die Menschen seien nicht erst infolge dieser Sünde sterblich geworden, sie wären es auch
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    dann, wenn Adam nie von dem Apfel gegessen hätte. Daher sei auch keine Erlösung notwendig, jeder könne durch seinen eigenen guten Willen zum Heil gelangen. Die ganze Geschichte mit Jesus habe nur dazu gedient, ein gutes Beispiel für tugendhaftes Leben zu geben, nichts anderes. »Fast wie
    Häretiker von Mahumeth, die sage, Jesus bloß Prophet
    gewesen.«
    Auf die Frage, warum denn nie jemand zu den Satyrn gehe, antwortete Gavagai, am Fuße jener Hügel sei ein Wald mit einem See, und es sei allen verboten, ihn zu betreten, denn dort lebe eine Rasse übler heidnischer Frauen. Die Eunuchen sagten, ein guter Christ gehe da nicht hin, denn er könne in einen bösen Zauber geraten, und so gehe da eben niemand hin. Aber mit Unschuldsmiene beschrieb Gavagai den Weg dorthin so genau, daß man annehmen mußte, er oder irgendein anderer Skiapode waren bei ihren weitläufigen Exkursionen auch bis zu jenem See gelangt.
    Mehr brauchte es nicht, um Baudolinos Neugier zu wecken. Er wartete auf einen Augenblick, in dem ihn niemand beachtete, sprang auf sein Pferd, durchquerte in weniger als zwei Stunden eine weite Steppe und kam an den Rand eines dichten Waldes.
    Er band das Pferd an einen Baum und drang in das frische duftende Grün ein. Über Wurzeln stolpernd, die bei jedem Schritt auftauchten, und riesige Pflanzen in allen Farben streifend, gelangte er schließlich ans Ufer eines Sees, auf dessen gegenüberliegender Seite steil die Hügel aufragten, in denen die Satyrn lebten. Es war um die Zeit des Sonnenuntergangs, das kristallklare Wasser begann sich langsam zu verdunkeln und spiegelte die langen Schatten der vielen Zypressen, die es umstanden. Überall herrschte tiefe Stille, nicht einmal unterbrochen von Vogelgesang.
    Während Baudolino sinnend am Ufer dieses spiegelglatten Wassers stand, sah er auf einmal ein Tier aus dem Wald treten,
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    das er noch niemals im Leben gesehen hatte, aber auf Anhieb erkannte. Es sah aus wie ein Fohlen, war ganz weiß und bewegte sich zierlich und fließend. Auf dem wohlgeformten Kopf, direkt über der Stirn, hatte es ein ebenfalls weißes Horn, das spiralförmig gewunden war und in einer scharfen Spitze endete.
    Es war das Einhorn, das lioncorno, wie Baudolino als Kind gesagt hatte, das Monoceros seiner kindlichen Phantasien. Er bewunderte es mit angehaltenem Atem, als er hinter ihm eine weibliche Gestalt aus den Bäumen treten sah.
    Gertenschlank, in ein langes Kleid gehüllt, das kleine
    vorspringende Brüste anmutig hervortreten ließ, bewegte sich die Kreatur im trägen Gang eines Kameloparden, und ihr Kleid streifte das Gras, das die Ufer des Sees verschönte, als schwebte sie über dem Boden. Sie hatte langes blondes Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte, und ein Profil von solcher Reinheit, als wäre es für eine Elfenbeinfigur modelliert. Der Teint war leicht rosig, und dieses engelhafte Antlitz war in der Haltung eines stillen Gebetes zum See gerichtet. Das neben ihr stehende Einhorn trat sanft von einem Bein auf das andere, ab und zu mit leisem Schnauben den Kopf hebend, um eine Liebkosung
    entgegenzunehmen.
    Baudolino schaute hingerissen.
    »Sicher denkst du jetzt, Kyrios Niketas, daß ich seit Beginn unserer Reise keine Frau mehr gesehen hatte, die diesen Namen verdiente. Versteh mich nicht falsch, es war nicht Begierde, was mich erfaßt hatte, eher ein Gefühl von heiterer Verehrung, nicht nur für sie, sondern auch für das Tier, den stillen See, die Berge, das Licht jenes zur Neige gehenden Tages. Ich kam mir vor wie in einem Tempel.«
    Baudolino versuchte, seine Vision mit Worten zu beschreiben, was man sicher nicht kann.
    »Weißt du, es gibt Momente, in denen die Vollkommenheit
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    selbst in einer Hand oder einem Antlitz erscheint, in einer Wolke am Hang eines Hügels oder über dem Meer, Momente, in denen einem das Herz stehenbleibt angesichts des Wunders der Schönheit... In jenem Moment erschien mir die herrliche Kreatur wie ein erhabener Wasservogel, bald wie ein Reiher, bald wie ein Schwan. Ich sagte, daß ihr Haar blond war, aber nein, als sie den Kopf leicht bewegte, nahm es bald bläuliche Reflexe an, bald schien es von

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