Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
kürzlich verstorbenen Toten, es war, wenn man so sagen kann, ein Modergeruch von Vermodertem, ein Geruch von lange schon toten Toten, die verwest und gleichsam zu Mumien geschrumpft waren. Sie traten in einen Gang - und sahen rechts und links ähnliche Gänge abzweigen -, in dessen Wänden sich dicht an dicht Nischen auftaten, bewohnt von einer unterirdischen Population fast noch lebendig wirkender Toter.
    Tote waren es zweifellos, diese vollständig bekleideten Gestalten, die da aufrecht in ihren Wandvertiefungen standen, vielleicht mit Eisenstäben im Rücken gehalten; aber die Zeit
    -606-
    schien ihr Zerstörungswerk nicht vollendet zu haben, denn diese eingefallenen, lederfarbenen Gesichter mit leeren Augenhöhlen, oft gezeichnet durch ein zahnloses Grinsen, erweckten einen seltsamen Eindruck von Leben. Es waren keine Skelette,
    sondern ausgetrocknete Leiber, verdorrt, als hätte eine Kraft von innen heraus die Eingeweide und alles übrige aufgezehrt, um nur die Knochen mit der Haut darüber und vielleicht einen Teil der Muskeln übrigzulassen.
    »Kyrios Niketas, wir waren in einen Katakombenfriedhof
    gelangt, in dem die Mönche von Katabate jahrhundertelang ihre gestorbenen Mitbrüder beigesetzt hatten, ohne sie zu beerdigen, denn eine wundersame Verbindung des Bodens, der Luft und einer Substanz, die aus den Tuffsteinwänden dieser
    unterirdischen Gänge tropfte, bewahrte sie vor dem Zerfall.«
    »Ich dachte, das sei schon lange nicht mehr Brauch, und von den Katakomben des Katabateklosters hatte ich keine Ahnung -
    woran man sieht, daß diese Stadt noch Geheimnisse birgt, die niemand von uns kennt. Aber ich habe davon gehört, wie
    bestimmte Mönche in früheren Zeiten, um das Werk der Natur zu beschleunigen, die Leichen ihrer gestorbenen Mitbrüder acht Monate lang zwischen den Ausdünstungen des Tuffsteins
    modern ließen, sie dann herausholten, mit Essig abwuschen, einige Tage der frischen Luft aussetzten, sie bekleideten und wieder in ihre Nischen stellten, auf daß die in gewisser Weise balsamische Luft dieser Umgebung sie ihrer gleichsam
    geräucherten Unsterblichkeit übergebe.«
    Während sie weiterschritten, vorbei an jener langen Reihe verstorbener Mönche, alle mit liturgischen Gewändern
    bekleidet, als müßten sie noch ihres Amtes walten, funkelnde Ikonen küssend mit ihren fahlen Lippen, entdeckten sie
    Gesichter mit verzerrtem und asketischem Lächeln, andere, denen die Pietät der Weiterlebenden Bärte angeklebt hatte, so daß sie würdig wie einst erschienen, und deren Lider
    -607-
    geschlossen waren, so daß sie zu schlafen schienen, wieder andere, bei denen der Kopf zu einem Totenschädel reduziert war, aber mit ledrigen Hautfetzen an den Wangenknochen.
    Einige hatten sich im Lauf der Jahrhunderte verformt und sahen aus wie Launen der Natur, mißratene Föten,
    nichtmenschliche Wesen, auf deren verkrümmter Gestalt sich Meßgewänder unnatürlich abhoben, arabeskenverzierte Kasein in verblaßten Farben, Dalmatiken, die aussahen wie mit
    Stickereien verziert, aber sie waren vom Zahn der Zeit und von Katakombenwürmern zernagt. Bei wieder anderen waren die Gewänder zerschlissen, zerbröselt in den Jahrhunderten, und unter den Fetzen ihrer Paramente erschienen abgemagerte Körperchen, die Rippen überzogen mit einer straff wie das Fell einer Trommel gespannten Haut.
    »Mag sein, daß es Pietät war, was zu dieser heiligen
    Inszenierung geführt hatte«, sagte Baudolino zu Niketas, »aber pietät- und gnadenlos waren die Überlebenden, die das
    Gedenken an jene Toten als eine permanente Drohung inszeniert hatten, die nicht im geringsten dazu angetan war, die Lebenden mit dem Tod zu versöhnen. Wie kann man für die Seele von jemandem beten, der einen von seiner Wand herab anstarrt, als wollte er sagen: ›Hier bin ich und hier werde ich bleiben‹, wie kann man an die Auferstehung des Fleisches glauben und an die Verklärung unserer irdischen Leiber nach dem Jüngsten Gericht, wenn diese Leiber noch da sind, jeden Tag häßlicher als am vorigen? Ich habe in meinem Leben nur allzu viele Leichen gesehen, aber wenigstens konnte ich hoffen, daß sie, nachdem sie sich in der Erde aufgelöst hatten, eines Tages schön und blühend wie eine Rose erstrahlen würden. Wenn dort droben nach dem Ende der Zeiten Leute wie diese hier umgehen sollten, so sagte ich mir, dann lieber die Hölle, die uns mit ihrem Feuer und ihren Spießen und Zangen doch wenigstens ein Abbild dessen gibt, was hier bei uns auf

Weitere Kostenlose Bücher