Baudolino
berührte man die Mumien in den Nischen; sobald ich eine Öffnung zur Linken fand, hastete ich in jene Richtung. Er folgte dem Geräusch meiner Schritte. Endlich sah ich einen Lichtschimmer vor mir, und kurz darauf fand ich mich am Grund jenes nach oben
offenen Brunnens, den ich schon beim Kommen passiert hatte.
Inzwischen war es Abend, und fast wie durch ein Wunder
erblickte ich genau über mir den Mond, der die Stelle
beleuchtete, wo ich stand, und einen silbernen Widerschein auf die Gesichter der Toten warf. Vielleicht waren sie es, die mir sagten, daß man seinen Tod nicht überlisten kann, wenn er einem auf den Fersen ist. Ich blieb stehen. Ich sah den Poeten auf mich zukommen, er hielt sich die linke Hand vor die Augen, um diese unerwarteten Gäste nicht sehen zu müssen. Ich packte eines ihrer mottenzerfressenen Gewänder und zog mit aller Kraft daran. Eine Mumie stürzte direkt zwischen mich und den Poeten, Staub aufwirbelnd, vermischt mit winzigen Fetzen des Gewebes, das im Moment der Bodenberührung zerfiel. Der
Kopf hatte sich vom Körper gelöst und rollte vor die Füße meines Verfolgers, genau unter den Mondstrahl, so daß er ihm sein gräßliches Grinsen zeigte. Der Poet hielt einen Augenblick erschrocken inne, dann stieß er den Schädel mit einem Fußtritt beiseite. Ich ergriff zwei weitere Mumien auf der
gegenüberliegenden Seite und schleuderte sie ihm direkt ins Gesicht. »Schaff mir diese Toten vom Hals!« schrie der Poet, während ihm winzige staubtrockene Hautfetzen um den Kopf flogen. Ich konnte dieses Spiel nicht endlos fortsetzen, ich wäre aus dem Lichtkreis hinausgestürzt und wieder ins Dunkel gefallen. So zog ich meine beiden arabischen Dolche und hielt
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die Klingen gerade ausgestreckt vor mich hin wie ein Paar Hörner. Der Poet ging mit erhobenem Schwert auf mich los, er hob es mit beiden Armen, um mir den Schädel zu spalten, doch er stolperte über das zweite Skelett, das vor seine Füße gerollt war, und fiel mir entgegen, ich kippte nach hinten, lag rücklings am Boden, auf die Ellenbogen gestützt, er fiel auf mich drauf, wobei ihm das Schwert aus den Händen glitt... Ich sah sein Gesicht über meinem, seine blutunterlaufenen Augen direkt vor mir, ich roch die Ausdünstung seiner Wut, den Gestank eines wilden Tieres, das seine Beute packt, ich spürte seine Hände, die sich mir um den Hals legten, ich hörte das Knirschen seiner Zähne... Ich reagierte instinktiv, hob die Ellenbogen und stieß die beiden Dolche rechts und links in seine Seiten. Ich hörte das Geräusch von zerreißendem Stoff, mir schien, daß die beiden Klingen sich in der Mitte seines Unterleibs trafen. Dann sah ich ihn weiß werden, und ein dünner Blutstrom quoll aus seinem Mund. Seine Stirn berührte die meine, sein Blut rann auf meinen Mund. Ich weiß nicht mehr, wie ich mich aus dieser Umarmung befreit habe, ich ließ die Dolche in seinem Leib stecken und schüttelte die Last von mir ab. Er sank neben mir auf den Boden, die weitgeöffneten Augen auf den Mond in der Höhe gerichtet, und war tot.«
»Der erste Mensch, den du in deinem Leben getötet hast.«
»Und gebe Gott, daß es auch der letzte war! Er war mein Jugendfreund gewesen, der Gefährte unzähliger Abenteuer in mehr als vierzig Jahren. Ich wollte weinen, aber dann fiel mir ein, was er getan hatte, und ich hätte ihn noch einmal töten können. Ich stand auf, was mir schwerfiel, denn ich hatte zu töten begonnen, als ich nicht mehr die Beweglichkeit meiner besten Jahre besaß. Ich schwankte keuchend bis zum Ende des Ganges, trat wieder in die runde Krypta sah die drei anderen bleich und zitternd dort warten und besann mich auf meine Würde als Ministeriale und Adoptivsohn Friedrichs. Ich durfte
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keine Schwäche zeigen Hochaufgerichtet, den Rücken zur
Ikonostase gekehrt, als wäre ich ein Erzengel unter Erzengeln, sagte ich: Der Gerechtigkeit ist Genüge getan, ich habe den Mörder des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches gerichtet.«
Baudolino ging sein Reliquiar holen, nahm den Gradal heraus, zeigte ihn vor, wie man eine geweihte Hostie zeigt, und sagte nur: »Erhebt einer von euch darauf Ansprüche?«
»Baudolino«, sagte Boron, dem es immer noch nicht gelang, seine Hände ruhig zu halten, »heute abend habe ich mehr durchgemacht als in all den Jahren, die wir zusammen verbracht haben. Es ist sicher nicht deine Schuld aber etwas ist zwischen uns zerbrochen, zwischen dir und mir, zwischen Kyot und mir, zwischen Boidi
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