Bauernjagd
heiße Wasser
über ihren Körper fließen. Sie dachte an Hedwig Tönnes. Seit Annika am
vergangenen Nachmittag die Todesnachricht erhalten hatte, ging sie ihr nicht
mehr aus dem Sinn. Hedwigs Sohn hatte sie neben der Güllegrube gefunden, in der
auch ihr Mann ums Leben gekommen war. Offenbar war sie an einer Überdosis Schlaf-
und Schmerztabletten gestorben, doch das musste die Obduktion noch bestätigen.
Ihr Schicksal berührte Annika mehr, als sie vermutet hatte. Viele
hielten Hedwig Tönnes zwar immer noch für eine Mörderin, die sich aus Reue das
Leben genommen hatte. Doch Annika sah das anders, und da war sie nicht die
Einzige. »Am Ende konnten die beiden wohl doch nicht ohne einander«, hatte
Tante Ada spätabends mit einem Blick über die Felder gesagt und dann ganz
entgegen ihrer Art lange geschwiegen. Annika hatte am Tisch gesessen und
gespannt darauf gewartet, dass sie weitersprach. Doch dann hatte sich Tante Ada
umgedreht und war ohne ein weiteres Wort aus der Küche gegangen.
Sie stieg langsam aus der Dusche und trocknete sich ab. Sie hatte
heute früh verschlafen, ihr Wecker war mitten in der Nacht einfach stehen
geblieben. Als Sophia sie geweckt hatte, war sie mit einem gehörigen Schreck
hochgefahren.
»Keine Sorge, Tante Ada hat heute Morgen die Kälber gefüttert. Wir
wollten dich nicht wecken, wo doch gestern Abend dein Kollege von der Zeitung
so lange da war.«
Bernd Faber war am vergangen Abend vorbeigekommen, um über das
Interview zu sprechen. Es war schon spät gewesen, bis auf Tante Ada hatten alle
anderen bereits im Bett gelegen. Nach der Todesnachricht war er eine willkommene
Ablenkung gewesen. Ein paar Stunden, die sie nicht über Hedwig Tönnes
nachdenken musste.
Nach dem Frühstück würde er sie mit dem Roller abholen. Marita
brauchte das Auto am Vormittag, und da es draußen noch mild genug fürs
Rollerfahren war, hatte sie sein Angebot angenommen, sie nach Altenberge zu bringen.
Später hatte sie ihm sogar vorgeschlagen, beim Interview dabei zu sein. Es wäre
ihr ungerecht vorgekommen, ihn auszuschließen, nach all dem, was er
beigesteuert hatte. Erwartungsgemäß hatte Bernd sofort zugesagt, sie zu
begleiten.
Sie stand lange vor dem Kleiderschrank und wählte schließlich ein
helles Tanktop und einen dünnen Cardigan von H&M, auch wenn es dafür eigentlich zu kalt war.
»Du solltest etwas über den Selbstmord von dieser Bauersfrau
schreiben«, hatte Bernd gesagt. »Das ist hundertmal besser als das Interview
mit der Kassiererin. Du kennst die Frau doch seit deiner Kindheit und weißt bestimmt
Sachen über diese Familie Tönnes, die außerhalb eurer Bauernschaft keiner
ahnt.«
Doch sie wollte lieber nicht über Hedwig schreiben.
»Es fühlt sich nicht richtig an. Außerdem ist das Interview über den
Banküberfall schon mit Frau Wegener abgesprochen.«
»Ach, das ist doch egal. Die wäre damit bestimmt mehr als
einverstanden. Das ist eine einmalige Chance. Wann bist du schon mal so nah an
einer Story dran?«
»Vielleicht hast du recht. Trotzdem. Ich bleibe dabei.«
Sie wollte die Toten ruhen lassen, egal, was Bernd darüber dachte.
Unten in der Küche saßen Marita und Tante Ada in Arbeitssachen am
Frühstückstisch und lasen die Zeitung. Sophia stand am Herd und machte
Spiegeleier. Es roch nach frischem Kaffee und gebratenem Speck. Annika wusste
nicht, wann sie das letzte Mal so lange geschlafen hatte.
Sie schlang ihre Arme um Tante Ada und drückte ihr einen Kuss auf
die Wange.
»Danke fürs Kälberfüttern«, sagte sie.
Tante Ada zog eine Grimasse und befreite sich aus der Umarmung. Dann
warf sie Annika einen mürrischen Blick zu und beugte sich wieder über die
Zeitung. Das war typisch für Tante Ada. Sie wäre ohne zu zögern bereit gewesen,
für sie alle durchs Feuer zu gehen. Aber deswegen brauchte man ja nicht gleich
anzufangen, Zärtlichkeiten auszutauschen.
»Kommt dein Verliebter gleich?«, fragte Emma in ihrem Kinderstuhl.
Annika blickte ärgerlich zu Marita, die schuldbewusst den Blick
abwandte.
»Beeil dich lieber, Emma«, sagte Marita unwirsch. »Sonst kommen wir
zu spät zum Kindergarten.«
Annika setzte sich an den Tisch, nahm eine Scheibe Brot und
schnappte sich den einzigen Teil der Zeitung, der noch herumlag, den mit dem
Lokalsport.
»Bist du rechtzeitig wieder da?«, fragte Tante Ada. »Ich möchte,
dass wir heute geschlossen zu Ludger Tönnes gehen.«
Am späten Nachmittag würden die nächsten Nachbarn von Hedwig Tönnes
zu ihrem Hof
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