Bauernjagd
Seitentür war unverschlossen. Überrascht steckte sie den
Schlüssel wieder ein. Hatte Clemens vergessen abzusperren, als er das letzte
Mal in der Halle gewesen war? Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich. Die
Halle war in schwaches Licht getaucht, die riesigen Landmaschinen standen da
wie Dinosaurier in einem Museum. Alles war still.
Obwohl es völliger Unsinn war, fühlte sie sich plötzlich beobachtet.
Als wäre sie nicht allein in der Halle. Sie wischte das Gefühl beiseite.
In der Ecke hinter dem Mähdrescher hatte Clemens eine kleine
Werkstatt eingerichtet, dort irgendwo musste auch der alte Rasenmäher stehen.
Ihre Schritte hallten von den Wänden wider.
Tatsächlich entdeckte sie den Rasenmäher neben einem Metallspind.
Beim Blick in den Benzintank erkannte sie, dass nicht genügend Sprit drin war.
Sie sah sich um. Irgendwo musste ein Kanister sein.
Am Spind stand eine Metalltür einen Spaltbreit offen. Eine
Sporttasche ragte heraus, die so groß war, dass sich die Tür nicht ganz
schließen ließ. Verwundert zog sie die Tasche hervor. Sie war nagelneu,
Gabriele hatte sie noch nie gesehen. Seltsam. Clemens hätte es ihr doch gesagt,
wenn er sich eine Sporttasche gekauft hätte. Zumal sie für gewöhnlich solche
Dinge für ihn besorgte.
Vorsichtig zog sie den Reißverschluss auf. Obenauf lag ein
Jagdgewehr. Es sah aus wie die alte Schrotflinte ihres Vaters. Wie war das
möglich? Clemens hatte die Waffe doch verkauft. Schon vor Jahren. Zumindest
hatte er ihr das gesagt. Unter dem Gewehr lag ein waldgrüner Lodenmantel, den
sie ebenfalls noch nie gesehen hatte. Jäger trugen solche Mäntel. Heinrich
Uhlmann hatte einen ganz ähnlichen gehabt.
Aber das war doch nicht möglich! Clemens lag im Krankenhaus, als der
Mord passierte. Er konnte nichts damit zu tun haben. Oder etwa doch?
Sie starrte die Tasche an und dachte an sein blasses Gesicht auf dem
Krankenbett. Wenn sie beide Geduld hätten, würde vielleicht alles wie früher
werden. Dann könnten sie so leben, als wäre nichts geschehen. Vielleicht würde
sie sogar irgendwann keine Angst mehr haben, wenn er mit dem Häcksler
hinausfuhr.
Mit zitternden Händen zog sie den Reißverschluss wieder zu. Dann stellte
sie die Sporttasche zurück in den Spind. Sie drückte die Tür zu.
Was, wenn sie gar nichts gesehen hätte? Wenn sie einfach vergäße,
dass dort diese Tasche stand? Was hier in der Werkstatt war, ging sie ohnehin
nichts an, das waren Clemens’ Dinge.
Wie betäubt wandte sie sich dem Benzinkanister zu. Sie füllte den
Tank des Rasenmähers, ohne den Spind noch mal anzusehen. Dann schob sie das
Gerät aus der Halle und schloss die Tür sorgsam ab.
Alles würde wieder wie früher werden, da war sie ganz sicher. Sie
brauchten nur etwas Geduld.
Seit Hedwig Tönnes aus dem Münsteraner Polizeipräsidium
zurückgekehrt war, saß sie am Küchentisch und starrte vor sich hin. Das tat sie
ständig, seit Ewald fort war. Saß einfach da und tat nichts.
Da war dieser Moment gewesen, auf dem Schützenfest: Sie hatte in der
Gluthitze des Festzelts gesessen und die Rufe von draußen gehört. Ihr war
sofort klar gewesen, dass es kein Irrtum war. Ewald war tot, unabänderbar. Sie
war nicht sicher gewesen, ob diese Nachricht einen Sieg oder eine Niederlage
bedeutete. Alles hatte sich seltsam taub angefühlt. Vielleicht bin ich jetzt
frei, war ihr erster Gedanke gewesen.
Im Haus war es nun still. Genau wie in den Ställen, seit die
Schweine abgeholt worden waren. Nichts regte sich mehr auf dem Hof.
Sie kochte jetzt für sich allein. Stand morgens auf, putzte sich die
Zähne, ging in die Küche, kochte Kaffee, räumte auf, spülte. Begleitet von der
immergleichen Stille.
Selbst in der Zelle, in die man sie gesteckt hatte, war es nicht so
ruhig gewesen. Da hatte sie gedämpfte Stimmen im Flur gehört und die Geräusche
der Gefängnisküche im Heizungsrohr. Hier am Tisch aber hörte sie nur ihren eigenen
Atem.
Sie legte die Hände in den Schoß und blickte auf die Tischplatte.
Auf dem wurmstichigen Holz lagen die Tablettenpackungen, die sie bereitgestellt
hatte. Daneben eine Flasche mit dem guten Westfälischen Korn, der aus Ewalds
Besitz stammte und die Wirkung der Tabletten verstärken würde.
Es war alles vorbereitet. Sie brauchte nichts mehr zu tun. Nur noch
aufzustehen, Tabletten und Schnaps zu nehmen und hinüber zur Güllegrube zu
gehen.
Einen Moment noch, dachte sie. Gleich bin ich bereit.
9
Annika stand unter der Dusche und ließ das
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