Bauernjagd
gehen und dort Gebete für die Verstorbene sprechen. Es war eine
alte Tradition in Erlenbrook-Kapelle, die heute kaum noch gepflegt wurde. Aber
dieses Mal hatte Tante Ada darauf bestanden. Sie hatte mit Ludger geredet und
danach alle zusammengetrommelt. Der Leichnam war zwar nicht mehr im Haus, wie
es früher üblich gewesen war, doch daran nahm keiner Anstoß.
»Na klar bin ich dann wieder hier«, sagte Annika und goss sich
Kaffee ein. »Das schaffe ich bestimmt.«
»Reicht es nicht, wenn ihr ohne mich dorthin fahrt?«, meinte Marita.
»Um drei Uhr kommt der Tierarzt, um die Kälber zu impfen, und danach wollte ich
beginnen, die Rinder aufzustallen. Die Nächte werden kalt, es wird höchste Zeit
dafür.«
»Diese eine Nacht werden sie schon noch auf der Weide bleiben
können.« Adas Stimme duldete keinen Widerspruch.
»Aber es spielt doch keine Rolle, ob ich mitkomme oder nicht«,
meinte Marita. »Hier ist so viel Arbeit liegen geblieben, da …«
»Ich habe gesagt, wir gehen geschlossen hin. Das sind wir Hedwig
Tönnes schuldig. Ende der Diskussion.«
»So ein Quatsch, was haben wir denn mit Hedwig Tö …?«
Adas Stimme donnerte durch die Küche: »Wir werden die Toten nicht
verspotten. Auch du nicht, Marita. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.«
Marita funkelte sie wütend an, sagte aber nichts. Als Tante Ada den
Teller mit den Spiegeleiern nehmen wollte, zog Marita ihn unter ihrer Hand weg
und schaufelte sich herausfordernd die letzten beiden Eier auf den Teller. Doch
Ada sagte nichts. Sie hatte ihren Willen durchgesetzt, Marita würde mitgehen.
Kurz nach dem Frühstück hörte Annika das Knattern von Bernds Roller
auf dem Hof. Sie schnappte sich die Tasche mit ihren Unterlagen, rief einen
Abschiedsgruß in die Küche und lief hinaus.
»Soll ich nicht kurz mit reingehen und deiner Familie Guten Tag
sagen?«, fragte Bernd. »Die haben mich schon gestern Abend nicht zu Gesicht
bekommen.« Er lächelte schief. »Nicht dass sie denken, du treibst dich herum.«
Annika hielt das für keine gute Idee. Er sollte lieber wiederkommen,
wenn bessere Stimmung herrschte.
»Lass uns einfach losfahren. Das holen wir ein anderes Mal nach.«
Sie setzte den mitgebrachten Helm auf und schwang sich auf den Sitz,
dann machten sie sich auf den Weg nach Altenberge.
Clemens’ Cousine wohnte in einem unauffälligen Reihenhaus in einem
Neubauviertel. Der Rasen war ordentlich geschnitten, das Unkraut zwischen den
Waschbetonsteinen beseitigt. Alles sah tadellos aus. Erst auf den zweiten Blick
bemerkten sie, dass hinter den Fenstern zur Straße schwere Vorhänge hingen.
Nach außen war alles abgeschottet. Annika wusste, dass Clemens’ Cousine seit
dem Überfall das Haus nicht mehr verließ. Sie litt unter Agoraphobie und
Panikattacken und war deshalb in Behandlung.
»Wir müssen auf jeden Fall höflich bleiben«, sagte sie auf dem Weg
zur Haustür zum x-ten Mal. »Eigentlich möchte sie nicht mit der Zeitung
sprechen. Sie soll es nicht bereuen, dass sie uns hereingelassen hat.«
Er lächelte. »Ich werde ganz reizend sein, versprochen.«
Annika fragte sich, ob er sich über sie amüsierte.
»Ich meine es ernst«, sagte sie.
Sein Lächeln wurde noch breiter. »Das weiß ich. Du kannst dich auf
mich verlassen.«
Sie atmete tief durch, dann drückte sie die Klingel. Hoffentlich
würde sie alles richtig machen.
Am Abend nach dem Treffen mit der Nachbarschaft saßen Ada
und Sophia im Wohnzimmer vor dem laufenden Fernseher. Ada hatte sich mit einem
Bleistift und einem Sudoku-Heft unter die Leselampe gekauert, Sophia saß neben
ihr auf dem Sofa und häkelte ein winziges Mäntelchen für eine ihrer Dekopuppen,
an denen sie allabendlich bastelte und die sie einmal im Jahr auf dem
Billerbecker Weihnachtsmarkt verkaufte. Vor ihren Füßen stand ein Korb mit
Stoffresten, Wolle und anderen Utensilien, in den sie von Zeit zu Zeit
hineingriff, um ein Stück Fell oder einen grünen Knopf herauszusuchen und
prüfend an das Mäntelchen zu halten.
Ada versuchte vergeblich, sich auf ihr Sudoku-Heft zu konzentrieren.
Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie konnte kein Muster bei den Morden
erkennen. Hedwigs Selbstmord hatte ihr einen zusätzlichen Schock versetzt. Natürlich
war sie eine furchtbare Person gewesen. Trotzdem. Wenn sie in der Nachbarschaft
wirklich zusammengehalten hätten, wie es früher einmal üblich gewesen war, dann
wäre das vielleicht nicht passiert. Doch diesen Vorwurf musste Ada auch an sich
selbst
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