Bauernjagd
stehen«, sagte er. »Die Kollegen
werden Präsenz zeigen und hoffentlich den Täter fernhalten. Sollte er trotzdem
auftauchen, sind sie natürlich vorbreitet.«
Sophias linke Hand war fertig, sie reichte ihm die rechte.
»Und du glaubst wirklich …?« Sie warf einen Blick auf den Jungen.
»Paul, geh doch mal kurz nach oben zu deiner Schwester. Wir rufen dich gleich,
wenn du Fingerabdrücke geben darfst.«
Der Junge fügte sich murrend. Sophia wartete, bis er die Tür hinter
sich geschlossen hatte, dann fuhr sie fort. »Und du glaubst wirklich, dass der
Täter es auf uns abgesehen hat?«
»Das weiß ich nicht. Aber wir müssen davon ausgehen, dass der Anschlag
auf dem Maisfeld Marita gegolten hat. Schließlich hat keiner gewusst, dass
Clemens und nicht sie auf dem Häcksler saß.«
Er bemerkte ihr sorgenvolles Gesicht.
»Keine Angst, Tante Sophia. Wir gehen nur auf Nummer sicher. Lange
kann es nicht mehr dauern, bis wir den Täter gefasst haben. Bis dahin wollen
wir lieber alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.«
»Hoffentlich reicht das aus«, murmelte Annika.
Er konnte sich schon denken, was Annika damit meinte. Sie hatte ihm
von Emmas unsichtbarer Freundin erzählt, die den Tod eines Familienmitglieds
vorhergesagt hatte. Der Rest der Horstkempers nahm diese Weissagung zwar nicht
besonders ernst, wohl fühlten sie sich damit aber dennoch nicht.
»Du solltest dieser Sache mit Emma nicht zu viel Bedeutung
beimessen«, sagte er. »Ich bin mir sicher, dass das Kind nicht mit den Toten
spricht.«
»Das denke ich auch, mein Schatz«, sagte Sophia und drückte ihre
Hand. »Klooke existiert nur in Emmas Phantasie.«
»Ich glaube ja gar nicht, dass Emma tatsächlich mit irgendwem
spricht«, meinte Annika. »Aber vielleicht hat sie eine Gabe, Dinge
vorherzusehen. Sie hat mich gewarnt, zum Hof von Vesting zu gehen. Sie wusste
vorher, was passieren wird.«
»Kinder reagieren sehr sensibel auf ihre Umgebung«, sagte er. »Sie
bekommen viel mehr mit, als wir denken. Vielleicht ist das ihre Art, die
Geschehnisse zu verarbeiten. Sie redet mit einem vermeintlichen Geist, der ihr
erklärt, was passiert.«
Annika seufzte. »Vielleicht hast du recht.«
»Es wird schon alles gut gehen. Außerdem bekommen wir jetzt Polizeischutz«,
meinte Tante Ada.
Hambrock nickte. »Und lange kann dieser Spuk nicht mehr dauern.«
»Kommst du morgen zur Beerdigung?«, fragte Annika. »Ich meine, es
ist Samstag, da hast du doch sicherlich frei.«
»Denkst du, dass ich bei so einem Fall einfach ins Wochenende gehe?
Glaub mir, ich hätte keine Ruhe. Natürlich komme ich.«
Er bemerkte Adas zufriedenen Gesichtsausdruck und machte lächelnd
den Abdruck von Sophias letztem Finger.
»So, jetzt kannst du dir die Hände waschen.« Er sah auf. »Wer ist
als Nächstes dran?«
An diesem Abend saß Gabriele Röttger allein im Wohnzimmer
vor dem Fernseher. Eine Hollywoodkomödie lief, doch sie konnte sich nicht
darauf konzentrieren.
Clemens war in Münster. Er besuchte seinen Bruder, wie an jedem
Freitagabend. Die beiden standen sich sehr nah, das freitägliche Treffen hatte
eine lange Tradition. Bis zum heutigen Tag war Gabriele noch nie auf die Idee
gekommen, sich zu fragen, warum Clemens immer allein dorthin fuhr und sie nicht
einmal mitnahm. Doch die Ereignisse der vergangenen Wochen hatten sie
durcheinandergebracht. Alles fühlte sich falsch an, sie wusste nicht mehr,
woran sie war.
Da war dieser Abend gewesen, vor ein paar Monaten, an dem Clemens
nach Münster gefahren war. Sie wollte zu einer Theateraufführung der Landfrauen,
aber dann bemerkte sie, dass der Tank ihres Wagens beinahe leer war. Sie rief
in Münster an, um Clemens zu fragen, wo seine Brieftasche sei, doch sein Bruder
sagte ihr, Clemens sei mit den Kindern im Garten und werde zurückrufen. Das tat
er auch ein paar Minuten später, doch im Hintergrund waren seltsame Geräusche.
Es hörte sich an, als wäre er auf einem Empfang oder im Vorraum eines Kinos.
Sie schaltete den Fernseher aus. Die Stille war wohltuend. Sie ließ
den Blick durch den Raum schweifen. Clemens musste die Tasche aus dem Spind
geholt haben, um sie woanders zu verstecken. Der Verdacht, den sie so
beharrlich von sich geschoben hatte, drängte sich immer wieder in ihre
Gedanken. Heinrich Uhlmann war mit einem Jagdgewehr erschossen worden, doch
offenbar hatte keiner der Jäger den Schuss abgefeuert. Wieso besaß Clemens
überhaupt so ein Gewehr?
Draußen war es bereits dunkel. Nebel zog herauf. Gabriele
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