Bauernjagd
stellte sie fest.
»Nein.« Er nahm die Lesebrille ab und massierte seinen Nasenrücken.
»Am besten kommst du erst einmal herein.«
»Sag mir, wo er ist. Sofort.«
»Gabi, bitte …«
»Ich habe die Schnauze voll von euren Lügen. Sag mir, wo er ist!«
»Komm doch ins Haus«, flehte er.
Sie wurde laut. »Vergiss es! Ich schwör dir, ich schrei die ganze
Nachbarschaft zusammen. Ich will jetzt wissen, wo Clemens ist.«
Er blickte sich ängstlich um.
»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.«
»Was soll das heißen?«
»Glaub mir, ich wollte da nicht mit reingezogen werden. Aber er ist
mein Bruder, was sollte ich denn machen? Ich wollte doch auch nicht, dass er
dich …«
»Spar dir deinen Atem. Sag mir endlich, was das alles zu bedeuten
hat.«
Er sträubte sich, doch sein Blick sprach Bände. Er musste gar nichts
mehr erklären.
»Er hat eine Geliebte«, sagte sie.
Johannes antwortete nicht. Gabriele musste sich am Türrahmen
abstützen. Kälte breitete sich in ihr aus.
»Wer ist sie?«
»Ich kenne sie nicht. Clemens erzählt nicht von ihr. Ich weiß nicht
einmal, wo sie wohnt. Alles, was ich weiß, ist, dass er immer freitags zu ihr
fährt.«
Voller Unbehagen strich er über seine Strickjacke.
»Willst du nicht doch hereinkommen? Wir können darüber reden.«
Doch sie hatte sich bereits abgewandt und lief eilig zum Auto zurück.
Nur weg von hier.
»Gabi, warte!«, rief Johannes ihr hinterher. »Setz dich jetzt nicht
hinters Steuer!«
Aber sie hatte die Tür bereits aufgerissen, sprang hinein und
startete den Motor. Beim Zurücksetzen rammte sie ein parkendes Fahrrad. Dann
trat sie aufs Gas und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Die Fahrt über fühlte sie sich wie in Trance. Sie bemerkte nicht,
dass ihre Wangen nass von Tränen waren. Der Wagen schoss über die nächtlichen
Straßen. Sie krallte sich ans Lenkrad. Drückte das Gaspedal durch. Immer
weiter, bis sie endlich zu Hause angekommen war. Das Auto ließ sie mitten auf
dem Hof stehen. Sie stellte nicht einmal den Motor ab. Rannte stattdessen ins
Haus und schnappte sich den Schlüssel für die große Halle. Lief wieder hinaus
zum Seiteneingang und fummelte am Schloss herum, bis die Tür endlich aufsprang.
Dann hastete sie zum Spind. Riss nacheinander alle Türen auf, blickte in jedes
Fach und suchte den Boden ab. Doch nichts. Die Tasche war verschwunden. Sie sah
hinter der Werkbank nach, unter den Maschinen und auf den Regalen. Aber sie war
nirgends zu sehen.
Bleib ruhig. Denk nach. Wo würde Clemens sie verstecken? Welchen Ort
gibt es, an dem du sie niemals zufällig entdecken würdest?
Ihre Gedanken rasten. Sie musste die Tasche finden. Sie musste sie
finden, um sie der Polizei zu überbringen. Alles andere war nicht mehr wichtig.
Der Dachboden! Natürlich. Das war es.
Sie drehte sich um und rannte zurück ins Haus. Die Tür ließ sie
sperrangelweit auf. Im Obergeschoss befand sich eine Luke in der Decke. Mit
einem Stock zog Gabriele sie herunter, eine ausziehbare Leiter fiel ihr
entgegen. Die wackelige Konstruktion zitterte unter ihrem Gewicht, doch sie
achtete nicht darauf und kletterte unbeirrt auf den Dachboden. Oben angekommen,
knipste sie eine nackte Glühbirne an. Sie sah sich um.
Kisten und Säcke mit alten Kleidern standen herum. Dahinter, neben
dem gemauerten Schornstein, entdeckte sie die Tasche. Clemens hatte sich nicht
einmal die Mühe gemacht, sie zu verbergen.
Gabriele ging in die Knie und zog den Reißverschluss auf. Das
Jagdgewehr lag oben auf. Nun wollte sie es genauer wissen. Vorsichtig nahm sie
das Gewehr heraus und legte es auf die Dielen. Dann zog sie den Lodenmantel
hervor. Sie fragte sich, was noch in der Tasche sein mochte. Als sie den Mantel
beiseitelegte, fiel etwas Kleines, Metallenes auf die Holzdielen. Es war eine
Pistole. Erneut wurde ihr schwindelig. Doch sie packte weiter aus. Zog einen
dunklen Wollpullover hervor, eine schwarze Hose und eine Wollmütze, die sich
übers Gesicht ziehen ließ. Doch die größte Überraschung wartete noch auf sie.
Im Innern der Tasche befand sich ein Reißverschluss, der sich aufziehen ließ.
Geldbündel quollen hervor. Sie hatte noch nie so viel Geld auf einem
Haufen gesehen. Vorsichtig zog sie eines der Bündel hervor. Es waren
Fünfzig-Euro-Scheine. Nun war sie vollends sprachlos. Mit dem Geld in der Hand
ließ sie sich neben die Tasche sinken.
Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie
jemand bedächtig die Leiter hinaufkletterte. Erst als
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