Bauernopfer: Lichthaus' zweiter Fall (German Edition)
und während er neben Claudia herging und den Kinderwagen schob, spürte er, dass die Distanz zu seiner damaligen Krise zwar nicht ausreichte, um ihn auch in Grenzsituationen völlig normal reagieren zu lassen, er aber schon nahe daran war.
Am Hauptmarkt betraten sie das Café »Zur Steipe«, dem ehemaligen Ratsherrenhaus. Jetzt, am späten Nachmittag, waren viele Tische frei, und sie fanden direkt am Fenster Platz. Lichthaus hatte Trier lieb gewonnen. Er stammte aus einer fast grotesk langweiligen Kleinstadt im Westerwald und trauerte dem Kaff, aber noch weniger seinen Erinnerungen an eine mäßige Kindheit keine Sekunde hinterher. Seine Mutter war ihm gegenüber zeitlebens distanziert geblieben. Die ungewollte Schwangerschaft hatte sie zum Studienabbruch gezwungen, was sie nie hatte verwinden können und auf ihn projiziert hatte. Rainer, ihren zweiten Sohn, der heute als Arzt in ihrem Heimatort praktizierte, trug sie dagegen auf Händen, was das Verhältnis der Brüder nicht eben einfach gestaltete. Claudias Eltern hatten ihn wie ein eigenes Kind aufgenommen. Er hatte lange gebraucht, um sich daran zu gewöhnen insbesondere von seiner Schwiegermutter verwöhnt zu werden.
Vor dem Fenster sah er das Marktkreuz und die schmucken Fassaden, die Händler mit ihren Blumen- und Gemüseständen. Hier hatte er sein Zuhause gefunden. Fahrten in den Westerwald, die er tunlichst vermied und auf unumgängliche Termine beschränkte, hinterließen graue Eindrücke und einen faden Geschmack. Er lächelte vor sich hin und schaute auf. Claudia hatte ihn beobachtet und schien zufrieden zu sein. Sie erwiderte sein Lächeln, als die Kellnerin an ihren Tisch trat und die Bestellung aufnahm.
Henriette war in der Zwischenzeit von einem Gast zum anderen getrabt, um diese groß zu beäugen. Wie es bei kleinen Kindern üblich war, reagierten fast alle mit einem freundlichen Gesicht, doch sobald jemand sie ansprach, raste sie zu ihnen zurück. Wie so oft wunderte er sich, wie schnell sie einen Infekt wegsteckte und anschließend sofort die Welt weiter erkundete. Der Kuchen kam und er aß mit einem Heißhunger, der ihn überraschte, ein Stück Sachertorte und genoss den frischen Kaffee, während Claudia ihn ablenkte und auf Normalität umstellte, indem sie von ihrer Arbeit erzählte.
Sie war mit einigen Modellen und ihrer neuen Figur zum Thema Alter fast fertig und wollte diese am folgenden Tag für den Guss vorbereiten. In der nächsten Woche hatte sie hierzu einen Termin in einer Gießerei in der vorderen Eifel und fieberte darauf hin. In solchen Augenblicken ließ Lichthaus sie spüren, dass er beruhigend an ihrer Seite stand, da er wusste, wie sehr Claudia im Innern ständig von Zweifeln geplagt wurde. Morgen würde sie noch viel zu tun haben, die Tonplastiken mussten mit Silikon überzogen und eingegipst werden. Da der Fall trotz seines leisen Zweifels gelöst zu sein schien, plante er einen freien Samstag ein.
Henriette kam, kletterte umständlich auf seine Knie und schnappte sich den Keks, der zum Kaffee gereicht worden war. Sie sah zu ihm auf und lächelte so strahlend wie die aufgehende Sonne. Es wärmte ihn.
*
Eine halbe Stunde später betrat er auf der zweiten Etage die Schleuse zur Intensivstation und streifte einen der Schutzkittel über, die verpflichtend anzuziehen waren. Claudia war zurück nach Eitelsbach gefahren und hatte die laut schreiende Henriette mitgenommen, die ihren Papa nicht zurücklassen wollte.
Er klingelte an der Pforte, und eine Pflegerin öffnete ihm. Die Atmosphäre war geschäftig, strahlte aber eine professionelle Ruhe aus, als er hinter der jungen Frau in blauer OP-Kleidung den Flur zum vierten Raum entlangging. In den Patientenzimmern konnte er neben der Lawine an medizintechnischen Apparaturen gelegentlich auch einen Menschen erblicken.
»Hier liegt Herr Wessler. Ich schicke Ihnen den Stationsarzt.«
Der Kollege lag unter einer dünnen Decke im Bett. Die dürre Gestalt wirkte verloren zwischen den Laken. Offensichtlich hatte er ein starkes Beruhigungsmittel erhalten, denn er rührte sich nicht.
»Von Ihnen haben wir heute eine Menge Arbeit ins Haus bekommen. Ich bin Doktor Lucien Mbaye.«
Lichthaus drehte sich um und schaute einem Hünen von gut zwei Metern ins Gesicht. Ein Schwarzer mit französischem Akzent, dessen Wampe über den Hosenbund quoll wie ein Hefeteig. Der Arzt reichte ihm eine unangenehm schlaffe, feuchte Hand, und er musste den Impuls unterdrücken, seine Finger an der Hose
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