Bauernopfer: Lichthaus' zweiter Fall (German Edition)
volle Verwirklichung der plastischen Idee in drei Dimensionen verkörperten. Anschließend hatte sie leichte Objekte entwickelt, und näherte sich nun wieder schwierigeren Arbeiten an.
Seit heute Morgen modellierte sie, unterbrochen von einem grauenhaften Besuch in einer überfüllten Kinderarztpraxis, mit Ton eine Figur zum Thema Alter. Ottos Krankheit hatte den Anstoß gegeben. Der Augenblick, als er gebeugt und mutterseelenallein hinüber zu seiner tristen Wohnung geschlurft war, hatte Tränen in ihr aufsteigen lassen, aber auch die Idee geboren. Die entstehende Plastik tat es Otto gleich, beziehungsweise sollte es einmal tun, und Alter und Leere im Gesicht tragen. Später, wenn die Bronze aus der Form und das lange Polieren und Reinigen geschafft wäre, wollte sie die nur relativ kleine Statue mit Abstand zum Betrachter vor einer weißen Wand präsentieren. Praktisch als Sinnbild des Verlorenseins. Heute war ihr die Arbeit aus den Händen geflossen. Einige wenige Korrekturen noch und sie konnte zum Guss vorbereitet werden. Vielleicht sogar zur Ausstellung in Mainz fertig sein.
Das Telefon schrillte, und sie beeilte sich, den Hörer von der Station zu reißen, damit Henriettes Mittagsschlaf nicht unterbrochen wurde. Es war Johannes. Schon seine Begrüßung ließ ihre Warnglocken schrillen. Sie fragte, und ansatzlos sprudelte es nur so aus ihm heraus. Fast plastisch sah sie sein Gesicht, wie er kämpfte neben einem Hühnerstall in der Kälte. Er redete sich den Frust und die Angst vor einem Rückfall in die Depression von der Seele. Nachdem er geendet hatte, baute sie ihn auf, auch wenn sie spürte, dass er bereits über den kritischen Moment hinweg war, doch machte ihr die Situation Sorgen. Sie wollte ihn sehen und sich mit ihm treffen, bevor er ins Krankenhaus ging, um ihm eine Pause freizuschieben, körperlich und geistig. Er willigte sofort ein.
Traurig legte sie auf und stand verloren in ihrer neuen Werkstatt, während sie sich die Tonreste von den Händen rieb. Die Motivation zerschellte an ihrer Frustration wie ein Schiff in sturmgepeitschter Nacht an scharfkantigen Klippen.
Die Ereignisse vor fast zwei Jahren waren anfangs an ihr vorbeigelaufen, da sie damals, soeben Mutter geworden, die Ferien mit ihren Eltern in Holland verbracht hatte. Johannes hatte am Telefon wenig erzählt, war ihnen später nachgereist, jedoch bei seiner Ankunft in Domburg völlig verändert gewesen. Kaum noch als der zu erkennen, den sie in Trier gelassen hatte, lief er in sich gekehrt und oft abwesend stundenlang am Strand entlang, bevor er zu erzählen begann, sie darüber aufklärte, wie nahe er dem Tod gewesen war. Er sprach über den dumpfen Nachhall dieses Grauens, sprach von seiner Verzweiflung und von dem kalten Wasser, immer wieder vom Rauschen und der Kälte des Wassers.
Es war ihr in der hellen Sonne eines Sommertages nicht möglich gewesen, seine Ängste nachzuvollziehen, bis er in der Nacht schreiend hochgefahren war. Schweißnass und zitternd hielt sie ihn fest in den Armen, bis er schließlich einschlief. Aber nur eine Stunde später fand sie ihn dann, wie er reglos an Henriettes Bett saß und den schlafenden Säugling beobachtete. Tränen liefen ihm übers Gesicht und tropften unbeachtet auf den Boden. Kurz darauf hatte die Depression ihn völlig eingehüllt.
Zurück in Trier war er sofort in Behandlung gegangen, um nach vielen Wochen endlich seine Mitte zurückzufinden. Er arbeitete sich erneut in seine Routine ein, aber es war nicht vorbei, das spürte sie mit jedem Tag. Es würde nie ganz vorbei sein. Der Friede, den er mit dem Erlebten gemacht hatte, war brüchig wie dünnes Eis, und sie hoffte, dass er die Kraft hatte, dem neuerlich aufziehenden Unwetter zu trotzen. Sie wollte ihm die Geborgenheit geben, die er brauchte. Die Energie zum Handeln hatte er, da war sie sich sicher.
Sie seufzte, ging ins Haus und fluchte auf den Job ihres Mannes. Es waren keine netten Worte, doch hier konnte sie ja niemand hören.
*
Lichthaus steckte das Handy ein und sah den Hühnern zu, wie sie arglos gackerten und endlos im Gras pickten. Einer der Hähne, die zwischen den Hennen stolzierten, krähte laut. Ihr Stall war ein unförmiges Gefährt mit Deichsel, das eigentlich nur aus einer leichten Aluminiumunterkonstruktion bestand, die mit Platten aus Kunststoff verkleidet war. Am hinteren Ende standen zwei große Klappen offen, durch die es laufend hinein- und hinausging. Vom Dach aus spannte sich ein weißes Netz weit
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