Bauernopfer
Zweifel herrührten.
»Dann schau ma mal, was ich für Sie tun kann«. Der Gerichtsmediziner legte eine weiße Plastikschürze an und griff zum Mikrofon, das in der Mitte des Tisches von der Decke hing. Er begann schnell, leise und mit zahlreichen medizinischen Fachbegriffen die Leiche zu beschreiben. Als er seinen Gehilfen anwies, den Oberkörper aufzuschneiden, wich der rosa Farbton aus Sandras Wangen. Und als der Gehilfe mit einer Art Geflügelschere das Brustbein heraustrennte, verließen auch alle anderen Farbtöne ihr Gesicht und sie drehte sich um und sah zum Fenster hinaus. Der Mediziner beschrieb routiniert und ausführlich die Eingeweide; einige Organe wurden entnommen und vermessen.
Sandra bat nochmals um einen Tropfen Fichtennadelöl, und Charly überließ ihr das Fläschchen.
Dann ging es an die Öffnung des Kopfes, dem interessanten Teil in diesem Fall. Die handwerkliche Ausführung durch den Obduktionsgehilfen, der seine Tätigkeiten für die anwesenden Medizinstudenten genau erläuterte, veranlasste Sandra, einige Male kräftig zu schlucken. Als die Schädeldecke mit einem klebrigen Geräusch geöffnet wurde, verließ sie den Saal. Auf die akustische Herausforderung hatte Charly sie nicht hingewiesen. Mit Sandra ging eine der Medizinstudentinnen nach draußen, die genauso kreidebleich war.
Charly wäre Sandra nur zu gerne an die frische Luft gefolgt. Er musste all seine Willenskraft aufbieten, um es nicht einfach zu tun. Aber schließlich war es sein Fall. Es wurde erwartet, oder zumindest setzte er sich diesen Maßstab selbst, dass er die Entwicklung verfolgte und anwesend war, falls es Fragen gab oder Hinweise auftauchten.
Durch eines der kleinen Fenster konnte er Sandra im Hof sehen. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und den Kopf in den Nacken gelegt. Ob sie wegen eines Zwiegespräches mit dem Schöpfer nach oben blickte oder einfach nur durch die unendliche Weite des herbstlichen Himmels, an dem die ersten grauen Wolken aufzogen, den beklemmenden Eindruck des Obduktionssaales verdrängen wollte, konnte man nicht erkennen. Jedenfalls richtete sie plötzlich den Blick wieder nach vorne und schüttelte den Kopf. Man sah, dass sie zwei- oder dreimal kräftig durchatmete. Dann rieb sie sich nochmals Fichtenduft unter die Nase, drehte sich um und stapfte mit entschlossenen Schritten Richtung Eingang.
Kurz darauf stand sie wieder neben Charly. Die kurze Pause hatte gereicht, um ihren Teint wieder zu beleben. Aber auch ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Mich bringt hier nichts mehr raus, bevor wir nicht fertig sind, schien ihr Blick zu sagen.
»Entschuldigung, kommt nicht mehr vor«, flüsterte sie Charly zu.
»Kein Problem«, flüsterte Charly zurück.
Die Medizinstudentin kam nicht mehr zurück und war auch im Innenhof nicht zu sehen. Eine Dreiviertelstunde später hatte der Obduzent sein Werk vollendet und diktierte seine Zusammenfassung, während Igor – so nannte Charly in Gedanken den Gehilfen – alle Schnitte mit groben Stichen wieder zunähte.
Dann wandte sich der Rechtsmediziner an Charly und Sandra: »Also, Todesursache ist eindeutig die Schussverletzung im Kopf, die sofort zum Exodus führte. Sonst war er rundrum gesund. Wir haben einen Einschuss und einen Ausschuss. Der Schusskanal führt von rechts oben nach links unten in einem Winkel von etwa 15 Grad. Und auch von seitlich vorne leicht nach hinten. Das bekommen Sie aber natürlich alles noch auf Bildern geliefert. Des Weiteren handelt es sich nicht um einen aufgesetzten Schuss, das haben Sie ja auch schon erkannt.« Anerkennend nickte er Charly zu.
»Ich würde sagen, es handelt sich um einen relativen Nahschuss, höchstens aus einem halben Meter ungefähr. Aber das können Ihnen Ihre Schusswaffenexperten beim LKA besser sagen.«
Dann streifte er seine Plastikschürze ab, betrachtete sich nachdenklich den nackten Leichnam und kratzte sich am Hals. »Tja, nun zu Ihrer Gretchenfrage: Ist es ein Selbstmord oder nicht? Wenn ich ehrlich bin, ich kann’s nicht 100%ig sagen.« Dabei zuckte er mit den Schultern. »Schussentfernung und Schusskanal sprechen eigentlich dagegen. Aber wir haben hier schon die verrücktesten Sachen erlebt. Weiß der Teufel, warum jemand sich so komisch erschießen soll, aber möglich ist es schon. Ich kann also einen Selbstmord nicht ausschließen.«
Das war nicht, was Charly eigentlich hören wollte. Er hatte sich von der Obduktion eine eindeutige Aussage erhofft, ob er nun ein
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