Bauernopfer
Gefrierpunkt ab. Man grüßte nicht mehr und ignorierte einander. Außer wenn versehentlich ein Reiter über eine seiner Wiesen galoppierte. Dann hatte der Bichler cholerisch herumgeschrien, mit Anzeigen und Schadensersatzforderungen gedroht und die Reiter sowie den Gutsbesitzer mit allerlei Namen aus dem Tierreich belegt.
Einen Grund für einen Selbstmord, außer der bereits erwähnten charakterlichen Disposition, wusste der Besitzer des Reiterhofes nicht zu nennen. Am Samstag oder Sonntag war ihm nichts Außergewöhnliches aufgefallen, wobei er natürlich auch nicht darauf geachtet hatte. Daraufhin gab Sandra dem Friesen einen letzten Klaps auf den Hals und die Kriminaler verabschiedeten sich.
Zurück im Wagen machte sich ein leichter Pferdegeruch breit und Charly war sehr froh, dass sich nach einigen Augenblicken wieder Sandras Pfirsichduft durchsetzte.
Bis jetzt hatte Charly versucht, die Schmerzen in der Schulter zu ignorieren. Es wurde aber davon nicht besser und mittlerweile bewegte er sich wie ein ungelenker Roboter, weil er nicht mehr zur Seite oder nach hinten sehen konnte, ohne dabei den ganzen Oberkörper zu drehen. Auch Lenken und Schalten war nicht mehr möglich. Darum tauschte er den Platz mit Sandra und sie fuhr den Audi, während Charly auf dem Beifahrersitz einen Aktenvermerk zum Gespräch mit dem Besitzer des Reiterhofes diktierte.
Es war immer noch zu früh, um nach München zu fahren. Darum entschieden sich die Ermittler, auf gut Glück die Adresse des jüngeren Sohnes anzufahren. Er wohnte im Stadtteil Hundszeil, der mit Knoglersfreude ohne erkennbare Grenze verwachsen war. Also fuhren sie quer durch den Vorort und erreichten ein Wohngebiet am südlichen Ortsrand. Einfamilien- und Doppelhäuser aus den letzten zehn bis zwanzig Jahren standen in mehr oder weniger gepflegten Gärten und die Grundstücke waren mit Maschendraht, Thujenhecken oder Metallzäunen zwischen Granitpfosten säuberlich umfriedet.
Vor Hausnummer 37 in der Silesiusstraße hielten sie an und Sandra stellte den Motor ab.
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, bemerkte sie mit einem missbilligenden Blick auf das Haus von Bichler junior. Charly musste ihr recht geben. Sie sahen ein hellgrau gestrichenes Einfamilienhaus mit rotem Satteldach und dunkelgrauen Rändern um Fenster und Türen. Ein gepflasterter Weg führte durch eine rechteckige, kurz geschorene Grünfläche zur Haustür. Der Platz vor der Doppelgarage war ebenfalls mit grauem Pflaster belegt und zwischen den Steinen wucherten Löwenzahn und Disteln. Ein Zaun war weder vor dem Haus noch um den Garten vorhanden, obwohl jemand an einer Längsseite des Grundstückes irgendwann damit begonnen hatte, Zaunsockel zu betonieren, ohne diese Arbeit je zu vollenden. Das Haus selbst war höchstens zehn Jahre alt, schätzte Charly. Aber Holzfenster, Garagentor und Haustür hatten dringend einen Anstrich nötig. Wie beim Bauernhof, so fand man auch hier nirgends etwas Persönliches, etwas Originelles oder einfach nur irgendetwas Hübsches.
Sandra und Charly betraten die drei Stufen vor der Haustür, die nur aus dem blanken Beton bestanden, und klingelten. Im Haus rührte sich jedoch nichts. Während die Kriminaler sich weiter umsahen, erschien die Frau aus dem Nachbarhaus, getrieben von der Sorge um den Besitz des jungen Bichlers. Oder einfach nur aus Neugier.
»Hätten Sie was braucht?«, fragte sie, während sie die Fremden misstrauisch musterte.
Nachdem Charly und Sandra sich als Polizeibeamte ausgewiesen hatten, legte sich ihr Argwohn, und sie entwickelte sich zu einer sprudelnden Informationsquelle. Man sei erschüttert über den Tod des Vaters, auch wenn man den Landwirt eigentlich gar nicht näher gekannt habe. Dem Sohn gegenüber habe man das Mitgefühl noch nicht ausdrücken können, weil man ihn noch nicht gesehen habe. So wie man ihn halt überhaupt nicht oft sehe. Denn entweder sei er in der Arbeit oder er gehe weg oder er halte sich im Haus auf. Der Sohn arbeite beim Städtischen Bauhof in der Hindemithstrasse und verlasse sein Haus daher am Morgen immer recht früh, verkündete sie. Auf eine weitere Frage erfuhren die Ermittler, dass Bichler junior das Haus leider allein bewohnt. Damals, als das Haus gebaut worden war, habe es schon eine Freundin gegeben und sogar von einer Hochzeit sei schon die Rede gewesen. Aber dann, kurz nach dem Einzug, sei diese Freundin auf und davon. Seitdem wohnt der junge Herr allein und auch sehr zurückgezogen. Außer beim
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