Bauernopfer
Gessler, warum er sich in all den Jahren nicht bei der Polizei gestellt habe, nachdem seine unerklärliche Panik vielleicht einmal wieder abgeklungen sei, begründete Bierschneider mit der Verantwortung für die Firma und den damit verbundenen Arbeitsplätzen, den Existenzen all der Familien, die ohne Lohn und Brot dagestanden wären, wenn der Firmeninhaber sich in die Arme der Justiz überantwortet hätte und vorurteilsbeladene Polizisten eventuell vorschnell irgendwelche freiheitsentziehenden Maßnahmen ergriffen hätten, die dann, erst einmal als Tatsache geschaffen, ein zeitliches Ausmaß angenommen hätten, dessen unweigerliche Folge das Erlöschen des Betriebes, seines Lebenswerkes, gewesen wäre. Gessler habe übrigens genug gelitten während der langen Jahre seit dem Vorfall, wenn er des Nachts schweißgebadet aus Albträumen hochgeschreckt und um den Schlaf gebracht sei. Außerdem laste das Wissen um das Geschehene wie ein schwerer Druck auf seiner Seele und bereite ihm geradezu körperliche Schmerzen.
»Na, das wird ja jetzt dann, Gott sei Dank, besser«, stellte Charly fest. Er hatte die letzten Aussagen nicht mehr zu Protokoll genommen und bat Bierschneider, da er selbst sich nicht imstande sähe, diese ausgefeilten Formulierungen entsprechend wiederzugeben, im Namen seines Mandanten dessen Aussage zu erstellen und sie der Staatsanwaltschaft zu übersenden. Zum Telefonieren ging er hinaus.
Die Staatsanwältin war bereits informiert und stinksauer. Heute Morgen hatte die Behördenleitung die Linie in diesem Verfahren festgelegt. Ihr waren die Hände gebunden, denn die Sache war an höherer Stelle bereits entschieden. Sie konnte Charly keinen anderen Rat geben, als den Fall abzuschließen und sich auf die aktuellen Ermittlungen zu konzentrieren. Charlys Frage nach einem Haftbefehl für Gessler musste sie verneinen, denn mit seinem bestätigten Alibi schied der Firmenboss als Tatverdächtiger zumindest vorerst aus. Beim Öffnen der Tür zu seinem Büro kam es Charly vor, als hätte er ein geknurrtes »Volldepp« von Helmuth vernommen. Helmuth starrte aus dem Fenster, Gessler starrte kreidebleich auf den Fußboden und Bierschneider mit geröteten Wangen auf die Nägel seiner ausgestreckten Finger.
»War was?«, fragte Charly.
»Nix«, brummte Helmuth.
»Smalltalk«, brummte Bierschneider.
Gessler brummte nichts.
Der Firmenbesitzer wurde ein zweites Mal vernommen, diesmal als Zeuge zum Mordfall Bichler. Er identifizierte die ihm vorgelegte Pistole als die seine – zumindest sehe sie genauso aus wie die Browning seines Mandanten, korrigierte Bierschneider – und blieb bei seiner Darstellung, dass ihm die Waffe aus dem unverschlossenen Schrank im Nebenzimmer seines Büros entwendet worden sei. Hinweise auf einen Einbruch in die Firma gab es nicht und wann er die Pistole zuletzt im Schrank gesehen hatte, konnte Gessler nicht sagen; es war Jahre her, dass er sie zuletzt heraus genommen hatte. Auch in Bezug auf ein mögliches Motiv blieb er bei seiner Darstellung, dass ihm der Fortbestand der Gessler GmbH in seinem Alter nicht so immens wichtig sei, denn er habe für den Lebensabend ausreichend vorgesorgt. An dieser Stelle unterbrach Bierschneider die Ausführungen seines Mandanten.
»Und«, knurrte Helmuth, »Lebenswerk, und so? Arbeitsplätze, Familien, Lohn und Brot, hä?«
Doch er erntete nur einen leeren Blick von Gessler. Bierschneider entzog ihm wieder die Ehre einer Erwiderung. Stattdessen blickte der Anwalt noch einmal auf seine Rolex, erhob sich und wuchtete seinen Aktenkoffer auf Charlys Schreibtisch. Er verstaute den Aktendeckel im Koffer und klickte die Mine des schwarzgoldenen Kugelschreibers zurück. Damit war die Vernehmung beendet. Missmutig betrachtete der Verteidiger seinen zerknitterten Trenchcoat und während Gessler das Büro bereits verlassen hatte, drehte Bierschneider sich noch einmal um und sagte zu Charly: »Übrigens: Das mit der DNA-Untersuchung, das kostet nur einen Haufen Geld. Wir haben ja so weit jetzt alles geklärt, also tun Sie dem Steuerzahler einen Gefallen und verzichten Sie darauf.« Und mit einem Seitenblick auf Helmuth fügte er hinzu: »Hier wird genug Geld für nix und wieder nix verschleudert. Das sieht übrigens der Herr Garn genauso.«
»Wer gibt mir denn jetzt den Tipp?«, wollte Charly wissen. »Der Anwalt, der aussichtslose Verfahren bis vor den BGH oder das Bundesverfassungsgericht treibt, nur um in der Zeitung zu stehen und künftigen, potenten
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