Bauernopfer
sind diese Woche krank gemeldet, zwei Damen befindet sich im Mutterschutz und zwei Arbeiter haben die Woche Urlaub.« Sie schrieb die entsprechenden Vermerke zu den Namen auf die Liste. »In der Verwaltung sind heute fünf unserer Mädchen da, die arbeiten bis 16.00 Uhr. Unten in der Halle haben wir im Moment 23 oder 24. Davon arbeiten 12 den ganzen Tag, also bis 16.30 Uhr. Der Rest geht um 14.00 Uhr heim; dann kommt die Spätschicht, das sind wieder elf oder zwölf.«
»Na bravo!«, stellte Charly fest, und Sandra ergänzte: »Es gibt viel zu tun, pack ma’s.«
Die Sekretärin führte sie nach unten in den Brotzeitraum und klebte ein Blatt an die Tür, auf das sie »Nicht stören, Polizeiaktion« geschrieben hatte. Beginnend mit der Frühschicht, die um 14.00 Uhr nach Hause wollte, erschien ein Mitarbeiter nach dem anderen in dem schmalen Raum mit dem langen Tisch und den alten Holzstühlen zu beiden Seiten. Eine kleine Einbauküche mit Herd, Geschirrspüler, Kühlschrank und ein von Zeit zu Zeit laut kühlender Getränkeautomat bildeten den Rest der Einrichtung. An den Wänden hingen Poster von Südseestränden und Playmates. Sandra und Charly saßen an einer Seite des langen Tisches und ließen die Angestellten und Arbeiter jeweils gegenüber Platz nehmen. Anhand ihres Fragenkataloges führten sie die Vernehmungen durch, die je nach der Person des Befragten zwischen zehn und 30 Minuten dauerten.
Die meisten waren einfach nur neugierig und froh über die Abwechslung, die sich in ihrem Arbeitsalltag bot. Oft stellten sie ihrerseits Fragen und hofften, Einblicke in die polizeilichen Ermittlungen zu erhalten, die der normale Bild -Leser sonst nur mittelbar erfährt. Nebenbei fand Charly die Geruchsvielfalt interessant. Der Brotzeitraum selbst war ein wenig modrig. Jedem Beschäftigten aber haftete, entsprechend seiner Aufgabe im Betrieb, ein gewisses Grundaroma an. So rochen die Männer aus der Produktion nach Öl und irgendeiner Chemikalie. Die Jungs aus dem Werkzeugbau hatten das Aroma von Schleif- und Flexstaub an sich und die Damen aus der Verwaltung dufteten nach Kaffee und Druckertoner.
Daneben hatte aber jede Person ihren individuellen Duft, sei es der nach ihrem Shampoo, nach Rasierwasser und Deo oder einfach nur nach Schweiß und kaltem Rauch. Der eine oder andere roch auch nach Bier oder Schnaps, wobei man nicht zu sagen vermochte, ob die Fahne noch von gestern oder schon von heute stammte.
Manche der Befragten schienen ein wenig schwer von Begriff oder gaben sich zumindest so. Andere wiederum verstanden zwar die Fragen sofort, antworteten jedoch niemals konkret, sondern verloren sich in weitschweifigen Erklärungen und abwegigen Vermutungen. Wieder anderen stand das Misstrauen gegenüber der Polizei ins Gesicht geschrieben und sie äußerten sich auf die Fragen nur mit einem knappen »Ja« oder »Nein«. Der schlimmste war ein junger Russlanddeutscher, der mehr auf dem Stuhl lag, als dass er saß. Er verweigerte die Antwort auf alle Fragen, die nicht mit Ja oder Nein zu beantworten waren, und vertrat die Meinung, es gehe die Polizei gar nichts an, wo er an dem betreffenden Samstag gewesen sei. Charly bewunderte Sandra, die ruhig und höflich blieb.
Einigen war unzweifelhaft ihr schlechtes Gewissen anzusehen, so als befürchteten sie, bei der Befragung könnte irgendeine frühere Verfehlung, quasi eine Leiche im Keller ausgegraben werden. Ein älterer Herr gab sogar ungefragt mit zitternder Stimme und flehenden Augen zu, sich vor einiger Zeit zwei oder drei Schraubenschlüssel aus der Firma geliehen zu haben und er hätte bis heute vergessen, sie wieder zurückzubringen; vielleicht warn’s auch fünf.
Die Befragung verlief zügig und reibungslos. Die Meister und Vorarbeiter waren von Frau Berthold instruiert und schickten ihre Mitarbeiter generalstabsmäßig in den Brotzeitraum, so dass weder im Produktionsablauf der Firma noch bei der Befragung größere Lücken entstanden. Kurz nach 17.00 Uhr nahm Charly das Bitte-nicht-stören-Schild von der Tür und warf es in den Papierkorb. Der Großteil der Mitarbeiterliste war abgearbeitet. Zumindest waren alle befragt worden, die heute im Betrieb erreichbar waren. Den großen Durchbruch hatte die Aktion jedoch nicht gebracht. Die wenigsten der Befragten hatten Bichler persönlich gekannt. Überrascht mussten Charly und Sandra feststellen, dass es sogar einige Personen gab, die nichts von dem Mord in unmittelbarer Nachbarschaft der Firma wussten. Sie
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