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Bauernopfer

Bauernopfer

Titel: Bauernopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Peter
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nicht entgehen lassen und das Kind Herrn Gessler angehängt. Das Mädchen war übrigens nicht sehr dankbar. Sie ist gleich darauf zurückgegangen nach Kroatien.«
    »Die bösen Zungen behaupten auch, Sie und Herr Gessler würden sich sehr nahe stehen.«
    Auf diese Frage von Sandra antwortete Frau Berthold, indem sie über die Schulter zu Sandra sah und mit einseitig hochgezogener Oberlippe so etwas wie ein »Tss …« ausspie.
    In der folgenden Gesprächspause war nur noch das Fauchen der entkalkten Maschine und das kraftvolle Tosen des Geschirrspülers zu hören. Da Charly nicht davon ausging, hier noch einen Kaffee angeboten zu bekommen, beendete er die Befragung.
    »Jetzt ham mer s’ ned nach ihr’m Alibi g’fragt«, stellte Sandra fest, als sie in ihren Dienstwagen einstiegen.
    Charly winkte ab. »Wir wissen doch, wo s’ war. Und sie war’s doch eh nicht.«
     
    Als er kurz darauf die Haustür öffnete, hoffte er sehr auf den Geruch von scharf angebratenem Fleisch, Bratkartoffeln mit Kümmel und die säuerliche Note von klassisch angemachtem Salat. Aber es roch nicht nach warmem Essen. Es roch nach überhaupt nichts.
    Essen, das nicht riecht, kann doch gar nicht gut sein, dachte er und betrachtete die Reste des familiären Abendessens, bestehend aus Polenta mit Tofu. Der Kühlschrank bot keine Alternativen, es war kein Bier mehr im Haus. Und Mario hatte heute Ruhetag.

Samstag, 01. November
    Nachts war zum ersten Mal Schnee gefallen, der aber nur für Puderzucker-Design auf Dächern und Bäumen reichte. Dazu hatte ein schneidender Nordwind die letzten Blätter von den Zweigen gerissen. Zu allererst kontrollierte Charly an diesem Morgen, ob das Hoftor noch in den Angeln hing, die Fassade noch durchgehend weiß war und ob nicht tonnenweise Klopapier im Vorgarten herumlag. Gestern war Halloween gewesen. Einige Kinder hatten geläutet und nach Süßem verlangt. Es gab aber auch marodierende Cliquen, die ihren Spaß daran hatten, in dieser Nacht nur Saures zu verteilen. Familie Valentin war zum Glück verschont geblieben.
    Zum Frühstück schnitten sie einen Zellerspitz an, den Julias Taufpatin gestern gebracht hatte. Dazu liefen im Radio getragene Balladen. Saukalt, ungemütlich, fad – es war alles so, wie es sein musste: Die katholische Welt feierte wieder Allerheiligen.
    Charly wusste aus seiner Kindheit, dass es dabei um saubere Fingernägel, geleckte Frisuren, geputzte Nasen und ordentliche Kleidung ging. Manche Frauen bekamen jedes Jahr zu diesem Feiertag neue Mäntel und trugen neue Hüte auf sündteuren Frisuren. Vielen ging es an diesem Tag nicht darum, der Verstorbenen zu gedenken oder die Heiligen zu ehren, sondern vielmehr darum, am Friedhof in einem adäquaten Outfit gesehen zu werden und andere zu sehen, die – themengebend für die nachfolgenden Tage – vielleicht den Hut vom letzten Jahr trugen.
    Charly musste sich, wenn er tief in sich hineinhorchte, eingestehen, dass sich ihm der tiefere Sinn dieses Feiertages nicht so richtig erschloss. Aber er wahrte die Tradition, warf sich in Anzug und Mantel, achtete darauf, dass Ludwig und Julia ordentlich gekleidet und gekämmt waren, und ging mit seiner Familie zum Friedhof. Nicht zu spät und nicht zu kurz, zur Begrüßung andächtig nach links und rechts nickend und darauf bedacht, ja niemanden zu übersehen. Wenn sich dann der Weihrauchnebel wieder verzog und die knarrende Stimme des Pfarrers aus den krächzenden Lautsprechern verstummte, dann verweilte man noch eine Vaterunser-Länge mit gesenktem Blick am Grab oder man wartete einfach, bis das gedämpfte Gemurmel zur normalen Gesprächslautstärke anschwoll. Ab da durfte man sich wieder bewegen, der Pflicht war Genüge getan und man konnte die eisigen Zehen und Finger in die vorgeheizten Stuben bringen, wo man mit Kaffee und Torten für den Rest des Nachmittags, bis zur gemeinsamen Brotzeit am Abend, die gesamte Heiligenschar ehrte.
    Aber Tage wie Allerheiligen und Weihnachten hatten noch eine andere Bedeutung; das hatte Charly zu Beginn seiner Kripolaufbahn von einem erfahrenen Kollegen gelernt. »Flüchtige, deren Aufenthalt du ums Verrecken nicht ermitteln kannst, tauchen an Weihnachten plötzlich bei ihren Familien auf oder stehen wie die Chorknaben an der Familiengruft«, hatte ein erfahrener Kollege erklärt. »Und wenn in einem Fall ein Grab im Spiel ist, dann zieht das magisch an. Allerheiligen ist hervorragend geeignet für alle möglichen Gestalten, um unauffällig um ein Grab

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