Bauernopfer
Entwicklung zu sprechen, von der er zufällig vor dem Wochenende erfahren hatte. Helmuth war am Freitag immer noch krank gewesen und Charly hatte am Freitagmorgen einige der Gessler-Mitarbeiter, die sich im Urlaub oder Krankenstand befanden, telefonisch befragt. Danach hatte er die Toilette aufgesucht. Zum dritten Mal an diesem Tag, denn zweimal war jeweils ein Kollege dagewesen, und Charly konnte es absolut nicht leiden, in eine Toilettenkabine zu gehen, wenn andere ihm beim Hineingehen zusahen, oder sich hinzusetzen, wenn eine der drei Kabinen bereits besetzt war. Beim dritten Versuch war der Raum endlich leer. Charly setzte sich in die hinterste Kabine, um in aller Ruhe das unvermeidbar Natürliche zu erledigen. Nach kurzer Zeit aber betrat eine weitere Person den Toilettenraum. Eine Kabinentür flog krachend ins Schloss, eine Gürtelschnalle klimperte, Stoff rauschte und der Klodeckel schlug gegen den Spülkasten. Gleich darauf war ein erleichtertes Seufzen zu vernehmen, das sich schon bald mit anderen, nicht aus der Kehle stammenden Tönen mischte. Mitten in dieser keramisch verzerrten Kakophonie schwoll das tonleiterartige Geläut eines Telefon-Mobilteils an.
»Fix«, knurrte die bis dahin seufzende Stimme.
Scheiße, wenns’d wichtig bist, dachte sich Charly.
Ein kurzes Piep signalisierte, dass der Seufzer das Gespräch angenommen hatte.
»Garn!«, meldete sich der Gerufene. Nach kurzem Schweigen stotterte er weiter: »Oh, ah, grüß Gott, Herr Polizeidirektor … Das ist jetzt … Nein, nein, aber ich bin g’rad … Bitte? … Ja, genau, hab ich auch schon drüber nachgedacht … ach? … so, so, will ihn zurück … aha, offene Rechnung, verstehe … äh, wie Sie wollen … ach so, ich! … also, weiß nicht … doch, natürlich kann ich das beurteilen … nein, äh, wir legen keinen Wert auf den Mann … ungeeignet für die Kripo … glaub ich, oder? … nein, nein, … genau, zurück zur PI … g’rad wollt ich’s sagen … ja, teil ich ihm mit … bitte, äh, danke, Herr Rubin, äh, Herr Polizeidirektor, auf Wiedersehen … äh, -hören«. Es piepte. »Fix!«
Danach raschelte Papier, dann wieder der Stoff und schließlich klimperte die Gürtelschnalle. Wasser rauschte und Garn hatte die Toilette verlassen.
Später, als Charly im Gang mit Garn zusammengetroffen war, hatte dieser ihm en passant mitgeteilt, dass er entschieden habe, Helmuth demnächst wieder zurück zur Inspektion zu schicken.
Charly sah die Enttäuschung im Gesicht des Kollegen, als er ihm die Nachricht überbrachte.
»Also zurück in die Höhle des Löwen.« Helmuth lächelte sarkastisch.
»Die sitzen doch immer am längeren Hebel, das weißt doch«, klugscheißerte Charly. Gleich danach rügte er sich selbst: auch kein großer Trost.
Mit hängenden Schultern drehte Helmuth sich um und schweigend begann er, die Angaben der Gessler-Belegschaft in STUPID zu erfassen. Charly widmete sich wieder der Statistik.
Als Sandra zurückkam, versuchten sie gemeinsam, Licht in die Beziehungen Schwarzmüller – Berthold – Bichler zu bringen, die Charly auf dem Friedhof entdeckt hatte. Aber weder die polizeilichen EDV-Systeme noch die Daten des Einwohnermeldeamtes brachten sie weiter. Das Nachvollziehen von Verwandtschaftsstrukturen war nicht Charlys Stärke. Er war meistens froh, wenn er seine eigenen Onkel, Tanten, Nichten und Neffen fehlerfrei aufzählen konnte. Helmuth war genealogisch nicht viel besser – und nach der Hiobsbotschaft ein wenig demotiviert – und Sandra wollte sich heute Morgen anscheinend auch nicht auf alte Familiengeschichten konzentrieren. Sie war aus irgendeinem nicht ersichtlichen Grund gereizt, und nicht nur sie war froh, als sie die Dienststelle verlassen konnte, um die nächste Gessler-Arbeiterin im Mutterschutz zu besuchen.
»Prä- oder postmenstruell?«, fragte Helmuth.
»Prä«, sagte Charly, »post sieht ganz anders aus.«
Der Verwaltungskram war noch nicht ganz erledigt, doch er konnte sich nicht mehr darauf konzentrieren. Er wollte jetzt endlich die familiären Zusammenhänge aufklären. Höchste Zeit, dass er jemanden fragte, der sich mit so was auskannte.
Während Frau Kornburg duftenden Kaffee in die Tassen goss, erzählte Charly von dem Christophorus-Grab und erklärte, dass er gerne etwas über die Beziehung zwischen Annemarie Berthold und Rosa Bichler erfahren würde. Mehr Aufforderung brauchte Frau Kornburg nicht.
»Die Annemarie und die Rosa waren Cousinen«, begann sie, während
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