Bauernopfer
derlei berufsethischen Gedanken war Charly beschäftigt, als er eine Dame bemerkte, die in Lodenmantel und Fasanenfederhut den Friedhof betreten hatte. Er achtete nicht weiter auf sie, bis sie an ihm vorbei war und ihm ein Hauch von Eau de Cologne in die Nase stieg. Der Säbelzahntiger. Es war schon beinahe dunkel und es zog Nebel auf, darum hatte Frau Berthold ihn nicht bemerkt. Er konnte beobachten, wie sie an Bichlers Ruhestätte vorbeiging, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Weiter hinten blieb sie an einem Grab in der zweiten Reihe stehen. Im schummrigen, gelben Licht, das die nahe Straßenbeleuchtung in den Friedhof streute, konnte er einen massiven schwarzen Grabstein mit einer reliefartigen Heiligenfigur erkennen. Die Sekretärin stand regungslos mit gesenktem Kopf und ineinander gelegten Händen davor. Bestimmt 20 oder 30 Minuten verharrte sie so, bevor sie andächtig drei Kreuzzeichen schlug, Weihwasser auf die schwarze Erde spritzte und den Friedhof so zielstrebig verließ, wie sie gekommen war. Charly glaubte ein leises Schluchzen zu hören, als sie an der Thujenhecke vorbeiging. Nachdem das schmiedeeiserne Tor ins Schloss gefallen und Frau Berthold im Nebel verschwunden war, trat Charly aus seiner Deckung hervor und ging zu dem Grab. Bei dem Heiligen handelte es sich um Christophorus, der grau abgesetzt den Stein mit dem Kopf überragte. Den schwarzen Marmor beherrschte ein in die Mitte gemeißeltes, goldenes Kreuz. Links und rechts davon standen die Namen derer, die in diesem Flecken Erde die letzte Ruhe gefunden hatten oder derer man hier gedachte. Aus der Inschrift war zu erfahren, dass der Stabsunteroffizier Korbinian Schwarzmüller im Januar 1943 fern der Heimat in Stalingrad sein Leben verloren hatte. Hier in Seehof lag dagegen ein Franz-Josef Schwarzmüller begraben, geboren 1903, gestorben 1982. Neben ihm stand der Name seiner Frau: Agnes Schwarzmüller, geborene Berthold, 1905 bis 1986. Dann zog Charly die Augenbrauen hoch, denn auf der anderen Seite des Kreuzes, unter dem Stabsunteroffizier, bildeten goldene Lettern den Namen Rosa Bichler, geborene Schwarzmüller. Sie war 1944 geboren und im Alter von nur 26 Jahren anno 1970 hier beerdigt worden.
Montag, 03. November
Gott sei Dank hatte Charly wieder Appetit. Er konnte die resche Butterbretze zum Frühstückskaffee so richtig genießen. Gestern Abend noch hätte er nicht einmal ein Pfefferminzblättchen hinuntergebracht. Am Morgen hatte er Petra zum Sonntags-Brunch eingeladen, Es war die Entschädigung für die ausgefallene Shopping-Tour am vorletzten Samstag. Charly opferte sich, obwohl er eigentlich der Frühstück-undfertig-Typ war.
»Schorschi, des is’ lieb von dir. Ich liebe Brunch«, hatte Petra seine Offerte quittiert. Und sie hatte es ausgekostet, stundenlang, mit Müsli, Tee, Honigmelonen, Fruchtsaft, Quark und Gebäckteilchen. Er hatte die Zeit mit Kaffee, Rühreiern, Speckstreifen, Salamisemmeln, zwei Schokocroissants, drei Weißwürsten, Brezen, einem kleinen Schweinsbraten mit Knödeln, zwei Weizen und einem Stück Prinzregententorte totgeschlagen. Danach war er den ganzen Sonntag über zu keiner Bewegung mehr fähig gewesen. Auch als Petra abends um zehn einen Bio-Joghurt löffelte, hatte er noch nicht an Essen denken können.
Charly war froh, nach diesem Wochenende wieder in die Arbeit gehen zu können. Auch, weil er dringend mit Helmuth sprechen musste. Noch viel mehr aber brannte ihm die Frage nach dem Seehofer Grab auf den Nägeln, für deren Beantwortung es nur eine kompetente Quelle zu geben schien.
Zuerst jedoch ging der halbe Montag für Verwaltungstätigkeiten drauf. Er sollte auf Garns Weisung möglichst schnell bisher geleistete Mannstunden im Fall Bichler auflisten, die Außendienststunden zusammenzählen, die Anzahl der befragten und überprüften Personen nennen und eine Zahl für die abgearbeiteten Hinweise angeben. Nebenbei sollte er den Fall Bichler im polizeilichen EDV-System statistisch aufbereiten und mit vorgegebenen Katalogwerten in den unterschiedlichsten Feldern befüllen, damit später jemand im Rechenzentrum mit einem Knopfdruck feststellen konnte, dass die KPI Ingolstadt im Oktober im Deliktsbereich Mord einen Zuwachs von 100 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat aufwies, denn im Jahr zuvor hatte es im Oktober einfach keinen Mord gegeben.
Sandra war am Morgen zu einer der Gessler-Angestellten im Mutterschutz gefahren und Charly nutzte die Gelegenheit, um mit Helmuth unter vier Augen über eine
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