Bauernopfer
herumzuschleichen; aus welchen Gründen auch immer.«
Diesen Lehrsatz beherzigte Charly heute. Unter dem Vorwand, nach dem üppigen Mittagessen und der Schwarzwälder-Kirsch-Torte dringend Bewegung zu brauchen, verließ er die Tafel im Haus der Schwiegereltern nach der ersten Tasse Kaffee. Er fuhr zum Friedhof nach Seehof, wo einige Tage zuvor Bichlers Beerdigung in aller Stille über die Bühne gegangen war, ohne Musik, ohne Ansprachen. Nur die beiden Söhne, Frau Kornburg und der Pferdenachbar hatten ihm die letzte Ehre erwiesen. Charly hätte seine Hand nicht dafür ins Feuer gelegt, dass sich heute jemand am Grab hatte blicken lassen.
Noch immer lag der inzwischen verwelkte Kranz des Bauernverbandes als einziger Schmuck auf dem Erdhügel, an dessen Ende das einfache Holzkreuz mit dem schwarzen Band steckte. Es war bereits spät am Nachmittag, und nur noch vereinzelt hielten sich die Friedhofsbesucher an den Gräbern auf oder schlenderten zwischen den Grabreihen umher. Charly hatte sich an der hinteren Ecke der Aussegnungshalle postiert und machte ein andächtiges Gesicht. Verdeckt von einer schmalen Thujenhecke konnte er Bichlers Grab gut einsehen, ohne genau zu wissen, was er eigentlich entdecken wollte. Nach einiger Zeit, als das Tageslicht schon schwächer wurde, schlurfte eine gebeugte alte Frau auf ihn zu und blieb direkt vor ihm stehen. Sie sah ihn an, und da er nicht erraten konnte, was sie von ihm wollte, lächelte er. Aber nur so lange, bis sie ihm ihre grüne Plastikgießkanne an den Oberschenkel schlug. Da erst merkte er, dass er genau vor dem Hahn fürs Gießwasser stand. Er trat zur Seite und während die Alte mit einem unwirschen Murren ihre Kanne füllte, sah er sich, eine Entschuldigung stammelnd, nach einem anderen Standplatz um. Dadurch hätte er beinahe Manfred Bichler übersehen.
Der jüngere Sohn des toten Bauern war nicht feiertäglich gekleidet, er trug nur eine Jeans und eine Lederjacke. Ohne Kreuzzeichen trat er an das Grab heran. Auch seine Haltung konnte man nicht als andächtig bezeichnen. Vielmehr stand er leicht schräg davor, so als wäre er bereit, sich notfalls zu verteidigen. Manfred Bichler sah nicht aus. als würde er beten. Er erweckte eher den Eindruck, als führe er einen tonlosen Monolog, in dessen Verlauf er sich immer wieder durch leichtes Nicken seine Ausführungen selbst bestätigte. Plötzlich spuckte er zur Seite aus, drehte sich um und stapfte Richtung Ausgang durch den Kies.
Charly folgte ihm in sicherem Abstand und riskierte einen Blick über die Friedhofsmauer. Auf dem Parkplatz vor dem Friedhof stieg Bichler in einen verbeulten, an mehreren Stellen nachlackierten 5er BMW. Im Schein der Innenbeleuchtung erkannte Charly eine Frau, die er auf Mitte 30 schätzte, mit kurzen roten Haaren und einem Piercingstecker an der Augenbraue. Sie saß rauchend hinterm Steuer. Als Bichler eingestiegen war, startete sie den Wagen und die beiden fuhren Richtung Stadtmitte davon.
Charly notierte sich das Kennzeichen auf eine Baumarktrechnung, das einzig Brauchbare, das er auf der Suche nach einem Notizzettel in seiner Geldbörse fand. Er schlenderte zurück zur Aussegnungshalle, während er über Manfred Bichlers Auftritt und die gepiercte Rothaarige nachdachte. Was hatte das zu bedeuten? Hatte Bichler seinem Vater noch mal erklärt, warum er ihn getötet hatte? Hatte er sich entschuldigt? Gerechtfertigt? Sich versichert, dass er nicht wieder auferstanden war? Oder entsprach es eben seiner rustikalen Art, sich in Kung-Fu-Stellung vor dem Grab seines Vaters zu platzieren und zum Abschied auszuspucken? Und wer war die Rothaarige? Seit wann war er mit der zusammen? Hatte sie etwas mit dem Mord an seinem Vater zu tun? Hatte sie den Entschluss geweckt? Hatten sie gemeinsame Zukunftspläne, in die der Alte nicht gepasst hätte? Denn die Lady entsprach bestimmt nicht dem Idealbild einer Schwiegertochter, besonders nicht dem, das dem Bichler-Bauern vorschwebte, sofern ihm überhaupt eines vorschwebte.
Manchmal sind Bullen ganz schön dämlich, dachte Charly. Wenn man tief in den Ermittlungen zu einem Fall steckt, dann traut man irgendwann jedem alles zu, dichtet allen möglichen Leuten irgendwelche Motive an und spinnt die aberwitzigsten Theorien. Manchmal führten natürlich solche verschrobenen Gedanken zum Erfolg. Aber meistens müsste man sich eigentlich nach Abschluss der Ermittlungen bei einer Vielzahl der Beteiligten entschuldigen für alles, was man ihnen zugetraut hat.
Mit
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