Baustelle Demokratie
abgeben. Es stilisiert sich als »Leistungsträger«, als jemand, auf den es ankommt und der deshalb das Recht hat, sich selbst in den Mittelpunkt eines tendenziell endlosen Profitstrebens zu stellen. Materieller Gewinn und Lebensglück werden in dieser Lebenswelt – allen Thesen der Glücksforschung zum Trotz – zu zwei Seiten derselben Medaille.
Wir erleben die auch politisch gewollte Dominanz eines ungehemmten Individualismus, eines extremen Egozentrismus, der auf so leisen Sohlen daherkommt, dass wir ihn nur selten bewusst wahrnehmen. »Die Macht kommt von unten«, hat Michel Foucault, der französische Hexenmeister einer Philosophie der Macht, dazu einmal treffend formuliert (Foucault 1976). Die Macht des Ökonomischen hat Besitz von uns ergriffen, sie ist fester Bestandteil des Ich und seiner Träume und Sehnsüchte geworden. Sie kann nur um den Preis der Selbstaufgabe umgestoßen werden. Viele Menschen wollen von ihr beherrscht werden, und darum vermag sie sich der Kritik zu entwinden.
Ein solches geradezu körperlich verinnerlichtes Dispositiv der Macht ist das jenes überbordenden Individualismus, der in den letzten drei Jahrzehnten so ungeheuer groß geworden ist, dass alternative Appelle an gesellschaftliche Solidarität altbacken und »unsexy« anmuten. Überall ist »Wettbewerb«, überall ist »Cleverness« gefragt, ob bei Flug- oder Handytarifen, beim Rennen um die besten Plätze, die besten Jobs, die sichere Altersversorgung und die günstigste Krankenversicherung. Wir sind Unterworfene (»Subjekte« im wahrsten Sinne des Wortes) einer vollends entfesselten kapitalistischen Gewalt, die die Finanzmärkte immer weiter beschleunigt, unsere Terminkalender füllt und unsere E-Mail-Konten ständig zuwuchern lässt. Alle wissen um das Wahnsinnige an diesem Treiben, und doch folgen wir täglich diesem Imperativ eines extrem gesteigerten Wettbewerbs.
Kritik gegen die Maxime »Unterm Strich zähl ich!« ist heute kaum mehr möglich, weil wir alle Teil dieser in sich geschlossenen Welt ohne Alternative sind. Manche leiden noch darunter, viele bleiben in Form von sozialer Ausgrenzung (»Prekarisierung«) oder totaler Erschöpfung (»Burnout«) auf der Strecke, doch die meisten haben es notgedrungen längst akzeptiert und lächeln das Lächeln der Menschen in den Postbank-Werbespots. Uns bleibt nichts anderes übrig. Also wiederholen wir täglich zähneknirschend: »Unterm Strich zähl ich!« – im Verkehrsstau auf der Autobahn, in der kostenpflichtigen Warteschleife des Call-Centers der Telefongesellschaft oder Schlange stehend im Supermarkt. Und nicht nur am Arbeitsplatz, wo uns die anderen mal wieder die sprichwörtliche Nasenlänge voraus sind, schauen wir auf die Sieger in einem Wettbewerb, der am Ende alle zu Verlierern macht.
Diese zugegeben dunkle, aber leider unumgängliche Zeitdiagnose ist der wenig erbauliche Ausgangspunkt für die folgenden Betrachtungen zur Zukunft der Bürgergesellschaft. Doch im Grunde geht es nicht anders: Wer von Bürgerengagement und Ehrenamt als »Wohlfühlthemen« wegkommen und sich ernsthaft auf den Weg zu einer neuen politischen Kultur bürgergesellschaftlicher Mitverantwortung machen will, darf sich nicht auf halbgare Erkenntnisse und falsche Euphemismen einlassen. Wer die Welt nicht so hinnehmen will, wie sie ist, muss sie zunächst realistisch betrachten. Der professionell vorgetragene und geschliffene Optimismus, der in so vielen Reden, Texten und Statements aufscheint, ist ein Trugbild. Wenngleich die Fakten dagegen sprechen, hat sich dieser rhetorische Optimismus fest im Repertoire unserer Alltagsprache verankert: Während aus Problemen »Herausforderungen«, aus Entlassungen »Freisetzungen«, aus Arbeitslosen »Kunden« (des Jobcenters) und aus Schrumpfen »Negativwachstum« wird, zerbrechen reale Existenzen, werden Menschen vom Wohlstand abgehängt, weht der raue Wind der Prekarität nicht nur durch die Arbeitswelt, sondern durch die ganze Gesellschaft.
Die Gefahr, die Jürgen Habermas schon vor 30 Jahren in seiner Theorie des kommunikativen Handelns sehr eindrucksvoll beschrieben hat, scheint heute Wirklichkeit geworden zu sein (Habermas 1981): Die Lebenswelt – also die alltägliche Welt, in der wir alle leben – ist von den ökonomischen und administrativen Zwängen aus Wirtschaft und Staat mediatisiert worden. Und aus der Belagerung droht unweigerlich eine Kolonisierung zu werden, wenn man nicht beginnt, energisch gegenzusteuern. Das Diktat der
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