Baustelle Demokratie
starkes Profitstreben der Gesellschaft schade. Die Welt der Arbeit war reguliert; dies vermochte zwar nicht den Grundwiderspruch der Interessen aufzuheben, aber es war für lange Zeit eine Garantie für Fairness und »Sozialpartnerschaft«.
Auch wenn sich diese Beschreibung heute fast wie ein Märchen aus längst vergangenen Tagen liest: Dass eine kapitalistische Marktwirtschaft politisch mittels Regulierung in eine der Gesellschaft »dienende« Funktion gezwungen werden kann, dafür war die alte Bundesrepublik ein erfolgreiches Modell, mit dem im Prinzip alle gut leben konnten. Und wenn es auch an diesem Modell nichts zu idealisieren gibt, weil es Aspekte wie ökologische Zerstörungen und überkommene Geschlechterrollenmodelle nicht zu bearbeiten in der Lage war, taugt es doch in diesem einen (und ganz wichtigen) Punkt heute noch als Vorbild: soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Entwicklung als zwei Seiten derselben Medaille zu verstehen.
Doch die Dinge haben sich spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer grundlegend verändert. Der Zusammenbruch des ökonomisch maroden und moralisch diskreditierten »real existierenden Sozialismus« in Ostdeutschland und Osteuropa hat die Linke im Westen in eine bis heute anhaltende mentale Erstarrung versetzt und den »Kalten Kriegern« im Westen ihren Gegenspieler genommen. Zwar gibt es keinen kausalen Zusammenhang zwischen dem Ende des Staatssozialismus und der Infragestellung des sozialstaatlichen Kompromisses in Deutschland. Doch hat der Wegfall der »Systemalternative«, also der endgültige Abschied vom Traum einer sozialistischen Gesellschaft, für die Befürworter marktradikaler Politik einen erheblichen Schub bewirkt. In den Jahren nach 1990 war deutlich zu spüren, dass sich etwas verändert hatte im mentalen Gefüge der Bundesrepublik. Seit etwa 20 Jahren erleben wir die politisch gewollte Auflösung des Zusammenhangs von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Entwicklung.
Dieser Sündenfall für die soziale Demokratie wurde jahrelang vorbereitet und massenmedial befeuert. Schon seit den 1980er-Jahren wurde mit viel Geld und aggressivem Lobbyismus daran gearbeitet, den Wohlfahrtsstaat und seine schützenden Funktionen für lohnabhängig Beschäftigte und sozial Schwache als ineffektiv, bürokratisch und freiheitseinschränkend zu denunzieren. Wo früher von sozialen Sicherungssystemen als historischer Errungenschaft die Rede war, sprach man plötzlich vom »Gefälligkeitsstaat«, der »soziale Wohltaten« verteile, die man sich nicht mehr leisten könne und wolle. »Staatsaufgabenkritik« hieß das Zauberwort, das diesem beispiellosen Prozess der Revidierung von sozialer Sicherheit einen neutralen, wissenschaftlichen Anstrich geben sollte.
Alles in allem war dieses ideologisch motivierte und von handfesten materiellen Interessen getragene Programm sehr erfolgreich. Es wirkt auch heute noch sehr stark, und das sogar in Zeiten von Bankenkrise und Staatsverschuldung, die ja überdeutlich zeigen, dass neoliberale Ökonomie nicht funktioniert (vgl. Crouch 2011). Wie schwer man sich tut, die Wirtschaft angemessen zu regulieren! Wie groß ist die Angst politischer Akteure, durch Regulierung Ansehen und Stimmen zu verlieren! Wie mächtig sind die öffentlichen Sprachrohre der Marktgläubigen, die jeden kritischen Diskurs zur Folgenlosigkeit verdammen!
Es bleibt bis heute leider wahr: Seit dem Heraufziehen der marktradikalen Ideologie, die auch tief in die Seele der Sozialdemokratie vorgedrungen ist und weite Teile der Grünen wie selbstverständlich durchdrungen hat, ist eine »neue Erzählung« im Repertoire fast jedes Politikers und jedes Kommentators fest verankert. Heute heißt es nicht mehr, dass wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille sind; vielmehr herrscht die Maxime vor, dass alles getan werden muss, um wirtschaftliche Entwicklung – Wachstum, Profite, Rendite – zu stimulieren und zu fördern, weil dann , also erst als Folge davon, soziale Effekte (mehr Beschäftigung, bessere Arbeitsverhältnisse, höhere Löhne) sich als Folgewirkung (»Trickle-Down-Effekte«) einstellen werden. Ein fataler Irrtum, wie sich herausgestellt hat.
Doch derart umschrieben, handelt es sich erneut um einen Euphemismus. Daher muss man es deutlicher sagen: Die einseitige Präferenz zugunsten der wirtschaftlichen Entwicklung hat sich nicht peu à peu als »Irrtum« oder »Fehleinschätzung« herausgestellt. Vielmehr handelte
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