Bd. 1 - Die dunkle Schwinge
Alexander Philip Juliano waren sich durchaus bewusst, was an diesem Nachmittag in der Versammlung ablaufen würde, doch sie konnten es nicht verhindern. Die Nachricht vom Vorgehen der Flotte, die Oppositionsführer Tomas Hsien vorlag, hatte sich längst in der Öffentlichkeit herumgesprochen. Vermutungen und Spekulationen wichen purer Rhetorik und Schmähreden, und nun konnte man nichts anderes mehr machen, als sich zu erheben und sich durchzukämpfen.
Es war ein strahlender Herbsttag in Genf. Die Blumenuhr unten am Hafen stand in voller Blüte, die sanften Wellen des Genfer Sees schlugen ans Ufer. Der blaue Himmel über den Alpen erstrahlte wie auf einer Ansichtskarte der Stadt.
Dort, wo die Versammlung ihren Sitz hatte, kümmerten sich Gärtner um die Beete und die makellosen Rasenflächen. Im Gebäude dagegen herrschte trotz der Klimaanlage eine Atmosphäre wie kurz vor dem Einsetzen eines Hurrikans. Wenn es einen Mann gab, der diesen Sturm personifizierte, dann war das – zumindest aus der Sicht von Julianne Tolliver, der neuen Premierministerin Seiner Majestät – Tomas Hsien, der populistische Oppositionsführer von eigenen Gnaden.
Sie hätte ihm gerne das Rederecht verweigert, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Der Imperator hatte sie zu sich bestellt und von ihr verlangt, den Abgeordneten nicht zu Wort kommen zu lassen, doch sie hatte ihm erklären müssen, dass die Versammlung eine Weigerung nicht hinnehmen würde. Er hatte für seine Zeit bezahlt, und er bekam seine Zeit. Sie hatte ihm auch klar gemacht, dass jeder andere, den er an ihre Stelle treten lassen würde, nicht anders handeln konnte als sie.
Also durfte Hsien reden. Sie wusste, was er wusste. Er verfügte über mehr Informationen, als bislang an die Medien gelangt waren. Sie hatte ihrerseits Zugriff auf jene Kanäle, die sie über die Aktionen der Flotte auf dem Laufenden hielten – das vermittelte ihr eine Vorstellung davon, was er womöglich noch alles an die Öffentlichkeit bringen würde. Kurz vor Beginn der Versammlung an diesem Nachmittag hatte sie sich unter vier Augen mit Ted McMasters unterhalten, der zumindest formell Admiral jener Flotte war, die sich in diesem Moment auf dem Weg zu den Heimatwelten der Zor befand, um den tödlichsten Feind der Menschheit vollständig auszulöschen. Die schreckliche Ironie des Ganzen war, dass das Ergebnis dieses Krieges vermutlich das sein würde, was sich die Menschheit seit zwei Generationen am sehnlichsten gewünscht hatte. Doch diese gleiche Menschheit hielt die Maßnahmen, die zu diesem Zweck ergriffen wurden, für unpassend. Es war unmöglich, gleichgültig zu reagieren, und schwer, dabei gelassen zu bleiben.
Hsien kehrte während der Mittagspause in den Saal zurück und begann sofort, seine Runden zwischen Freunden und potenziellen Freunden in der Versammlung zu machen. Die Premierministerin, die die Pause nicht für ihr Mittagessen genutzt hatte, saß auf dem Podest und sah zu, wie er von einem Abgeordneten zum nächsten ging. Alle wussten, was in wenigen Minuten geschehen würde.
Eine Weile später rief der Vorsitzende die Versammlung zur Ordnung und erteilte Hsien das Wort. Der stand auf und ging langsam zum Sprecherpodium im vorderen Teil des Saals. Nachdem er seine Notizen vor sich ausgebreitet hatte, begann er mit seiner Rede.
»Herr Vorsitzender, wie Sie wissen, setze ich mich in dieser Versammlung seit langem für die Völkerrechte ein. Seit Beginn meiner Karriere hielt ich mich von den traditionellen Machtpositionen fern – aber nicht weil es mir am Vertrauen in meine eigenen Führungsqualitäten mangelt. Auch nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern weil ich glaubte, ich würde den Interessen meiner Wähler und meinem Gewissen am besten dienen, wenn ich diesen Kurs einschlage.«
Er hielt kurz inne und warf einen Blick zum Podest, auf dem die Premierministerin und die Mitglieder ihrer Regierung saßen.
»Ich nehme an Fachgesprächen teil und arbeite in Komitees hier in der Versammlung mit, aber ich bin kein Vorsitzender, auch kein Parteiführer. Ich bin nur ein Abgeordneter, ein Repräsentant und ein Untertan Seiner Imperialen Majestät. In dieser Funktion spreche ich heute zu Ihnen, schweren Herzens, voller Enttäuschung und Wut über die Handlungsweise dieser Regierung.
Seit Beginn meiner politischen Karriere, ja sogar seit Beginn meines Lebens gibt es einen Konflikt zwischen dem Imperium und unseren Todfeinden, den Zor. Der Krieg hat auf beiden Seiten Opfer
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