Bd. 1 - Die dunkle Schwinge
»Kommen Sie mit, Sergeant. Es gibt da jemanden, den Sie kennen lernen sollten.«
Mal schlief Rrith, mal machte er Körperübungen. Er war sich nicht sicher, was ihn erwartete, und auch nicht, ob es ihn überhaupt kümmerte. Der Schlaf half, seine Wunden heilen zu lassen, und er nahm ihm viel von seiner Benommenheit. Die Übungen machten ihn hungrig genug, um sich dazu überwinden zu können, die erbärmliche Ersatznahrung zu essen, die von Zeit zu Zeit in seine Zelle gelangte.
»Zelle« war auch die richtige Bezeichnung für den Raum, in dem er sich befand. Er wusste seit einer eingehenden Untersuchung dieses Raums, dass es keinen Ausweg gab. Also saß er hier fest, eingesperrt wie ein artha, außer dass sein entehrtes chya in der Ecke lag und leise knurrte.
Wenigstens ist das Licht nicht zu grell, dachte er, als er sich an die blauweiße Beleuchtung erinnerte, die die esGa’uYal bevorzugten.
Die Zeit verstrich, aber das Licht blieb immer gleich, sodass es ihm nicht möglich war, sie zu messen. Er konnte nur seine Schlafphasen zählen und schätzen. Als sein erster Besucher eintraf, wusste er nur, dass dies nach dem dritten Aufwachen erfolgt war.
Gerade hatte er begonnen, seine Flügel nach dem Schlaf zu glätten, als die Tür zu seiner Zelle sich öffnete und sofort wieder geschlossen wurde, nachdem ein einzelner Mensch eingetreten war.
Zorn stieg in ihm auf, der aus jahrelanger Übung entstand. Ein Teil seines Verstands kalkulierte, wie schnell er sein chya erreichen konnte und wie groß seine Chance war, diesen Diener von esGa’u zu töten, bevor ihn jemand niederstrecken konnte. Eine gewisse Mattheit hielt ihn jedoch davon ab. Stattdessen stand er einfach nur aufrecht da, brachte seine Flügel in die Haltung der Vorsichtigen Annäherung und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich bin Rrith vom Nest TITu«, sagte er in der Hochsprache, auch wenn er nicht länger das Recht besaß, sie zu benutzen.
»esLiHeYar«, erwiderte der Mensch klar und deutlich, wenn auch ein wenig stockend. »Ich weiß, wer Sie sind, se Rrith«, fügte er in einer Sprache an, die Rrith nicht bekannt war, die er zu seiner großen Verwunderung dennoch verstand.
»Sie sprechen die Hochsprache?«, fragte Rrith, teils angewidert, teils fasziniert.
»Ja. So wie Sie meine Sprache verstehen und sprechen können«, sagte der Mensch. Es stimmte: So barbarisch die Sprache des Menschen auch klang, Rrith konnte alles verstehen. Es war eindeutig ein Phänomen der Fühlenden, dessen er sich aber nicht bewusst gewesen war.
»Was ist Ihr Nest und Ihre Herkunft?«
»Christopher Boyd«, antwortete der Mensch. »Master Sergeant, Imperial Marines. Ich stamme von Emmaus, Epsilon Eridani 3. Ich unterbrach Ihre Zeremonie saHu’ue an Bord der Ka’ale’c A’anenu, indem ich …«
»Ich erinnere mich«, unterbrach Rrith ihn und wandte sich der Wand zu, wo er seine Blicke gedankenverloren über die hRni’i wandern ließ. »Ich nehme an, Sie sind ein Experte, was mein Volk angeht.«
»Nein, keineswegs. Jedenfalls nicht bis vor kurzem. Etwas geschah an Bord der Ka’ale’e A’anenu, se Rrith, was ich nicht ganz verstehen. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir dabei helfen.«
Rrith ordnete seine Flügel zur Haltung der Beherrschten Verärgerung und wandte sich wieder dem Menschen zu. »Warum sollte ich Ihnen bei irgendetwas helfen, unreiner Diener der Ausgestoßenen?«
Der Fluch ließ Chris Boyd für einen Moment zusammenschrecken. Er wusste, Commodore Torrijos beobachtete und belauschte das Gespräch zwischen ihnen beiden. Hatte er wirklich erwartet, ein gefangener Zor würde so ohne weiteres kooperieren, vor allem wenn er so kurz davor gestanden hatte, ein halbes Dutzend imperialer Schiffe und einige tausend Marines auszulöschen?
»Ich bin kein Gefolgsmann von esGa’u«, antwortete er nach einer kurzen Pause. »Das würden Sie doch schon längst wissen, wenn es so wäre.« Er sah zu dem Schwert, das widersinnigerweise in einer Ecke auf dem Boden lag.
»Mein chya und die Informationen, die es liefern könnte, gehen Sie ganz sicher nichts an«, sagte Rrith, dessen Flügel wieder eine andere Haltung einnahmen. Zu Boyds Überraschung nahm er diese Veränderung als einen Anflug von Neugier wahr, der dem feindseligen Ton der Antwort völlig widersprach.
Ich würde zu gern wissen, ob der Commodore das gesehen hat, überlegte Boyd.
»Ich muss Ihnen widersprechen, se Rrith. Wir fliegen gemeinsam.« Die Metapher kam ihm über die Lippen, ehe sie
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