Bd. 1 - Die dunkle Schwinge
einen neuen Flug führen wird.«
»Ein naZora’i soll uns führen?«, fragte Eyeh ungläubig.
»Es geht nicht anders, kleiner Bruder. Wir wählten diesen Flug zur Zeit meines Großvaters. Wir haben diesen Ausgang geschaffen oder zu seiner Schaffung beigetragen. esLi sagt, dass dieser naZora ’i-Admiral weise ist und entscheidet, wie es enden soll.«
Nachdem er dem Sprecher Mut zugesprochen und ihm weitere Details aus seinen Wahrnehmungen und Träumen berichtet hatte, ließ Sse’e seine Flügel ein wenig hängen und senkte seine Stimme, womit er eine gewisse Ermüdung eingestand. Ohne dazu angewiesen worden zu sein, zog sich Eyeh zurück und ließ den Hohen Lord allein in seiner Kammer der Einsamkeit zurück.
Die Träume des Hohen Lords waren die Wegweiser, nach denen der Flug des Volks gewählt wurde. So war es immer gewesen. Jahrelanges Training als Fühlender und ein Studium der Epen, Legenden und Geschichten bereiteten einen zukünftigen Hohen Lord darauf vor, den vorhersehenden Träumen manchmal verblüffende Auslegungen folgen zu lassen. esLi gab dem Hohen Lord nicht immer mit Worten zu verstehen, was er wollte. Manchmal wurde Sein Wille in Symbolen vermittelt. Sse’e fand, dass er sein Bestes gegeben hatte, die Offenbarungen auszulegen und sie Eyeh und den anderen zu vermitteln.
Seinen letzten und aktuellsten Traum hatte er sogar vor Eyeh verheimlicht. Nachdem sich vor seinen träumenden Augen Szenen von großer Tragweite abgespielt hatten, war ihm eine letzte Vision gekommen. Sie ereignete sich in seiner Kammer der Einsamkeit, doch er war da nur der Beobachter. Eine Vision seiner selbst – oder eher eine jüngere Darstellung, die in ihrem Erscheinungsbild etwas anders war und mehr an eine ältere Version seiner Söhne E’er oder Dra’a erinnerte – saß auf der obersten Stange der Kammer und wirkte wie in Meditation versunken. Dann beschrieb die Gestalt eine tiefe Verbeugung vor esLi und stieg von der Stange auf, um gemächlich zu kreisen und langsam an Höhe zu verlieren.
Doch ein Dutzend Spannweiten über dem Boden versteifte die Gestalt auf einmal die Flügel, sodass sie nicht länger der Krümmung der Wand folgte, sondern geradewegs darauf zuhielt. Wie so oft in seinen Träumen gehorchte ihm seine Stimme nicht, sodass er nur entsetzt zusehen konnte, wie die Gestalt mit dem Kopf voran gegen die Wand prallte und dann in die Tiefe stürzte. Das leblose Gesicht und die geknickten Flügel lösten bei ihm ein nie gekanntes Gefühl aus, das ihn mehr entsetzte, als er es mit Worten oder irgendeiner Flügelhaltung hätte ausdrücken können.
In diesem leblosen Bild sah er naGa’sse – die Blindheit des Fühlenden. Sogar im Tod war die Miene des Fühlenden gefasst, da sein hsi direkt in esLis Goldenen Kreis überwechselte. Dieses schreckliche Bild, diese Überwindung des Äußeren Friedens, drückte die größte Angst eines Fühlenden aus: dass esLis großartige Gabe ihn verlassen würde, solange das hsi noch in seinem Körper war, sodass er gedankenblind sein würde.
Wenn das einem Fühlenden widerfuhr, war es schmerzhaft. Wenn es einem Hohen Lord widerfuhr, war es verheerend.
Dieser Traum war ihm bereits zweimal erschienen, und jedes Mal war die Szene gleich abgelaufen. Die Botschaft dahinter konnte er nicht erkennen, es sei denn, das Bild zeigte einfach nur die Zukunft. Es hatte etwas Ironisches: Das Volk befand sich im Zustand der größten Verzweiflung, und er konnte einen neuen Pfad der Hoffnung und des Wandels sehen, der sie vom Ur’ta leHssa wegführte. Gleichzeitig war da das düstere Vorzeichen, das den Tod des Hohen Lords zeigte, erblindet und vom Inneren Frieden Lord esLis getrennt.
Er riet sich selbst, geduldig zu sein. esLi wird dich früh genug verstehen lassen, sagte ihm seine innere Stimme. Bis dahin gibt es noch viel zu tun.
Es kam ihm wie ein belangloser Beruhigungsversuch vor, doch es war alles, was er hatte.
18. Kapitel
[Beginn Videoaufzeichnung 210811-0143 502]
[Off-Sprecher:] »Commodore Sir Kenneth Tamori, der Sprecher der Admiralität, gab um 1310 CT eine Erklärung ab, als Reaktion auf Gerüchte, die von einer feindlichen Flotte sprechen. ›Dieses Gerücht entbehrt jeder Grundlage«, erklärte Commodore Tamori. ›Entgegen dem Material, das im Netz veröffentlicht wurde, sind die Positionen aller feindlichen Waffen und Tonnagen auf dieser Seite der Antares-Verwerfung genau bekannt. Die Flotte im Kriegsgebiet hat die Zor-Flotte geschlagen und alle
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