Bd. 1 - Die dunkle Schwinge
»äußeren Friedens«. Der »innere Frieden« leitet sich ab aus einem Gefühl des Einsseins, einer harmonischen Einheit mit dem eigenen Selbst, die das Ergebnis von Meditation sein soll, eine Art Nirvana. Der »äußere Frieden« dagegen bezeichnet die harmonische Einheit mit der Gesellschaft, die Wahrung eines strengen Ehrenkodex. Es ist bekannt, dass ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung gegen diese Ethik verstößt, indem diese Zor zu tief in Meditation versinken (und den »inneren Frieden« verletzen, indem sie ein falsches Nirvana erreichen) oder indem sie in einer schädlichen Art mit der Gesellschaft umgehen (und den »äußeren Frieden« verletzen, da sie im Umgang mit anderen Zor Spannungen aufkommen lassen). Der Übeltäter wird in den meisten Fällen ausgestoßen (idju) und begeht fast immer Selbstmord.
EINSTELLUNG: Die Zor betrachten ihre Welt als von ihrem Schöpfer esLi geschaffen, und die Existenz einer anderen Spezies lässt sie glauben, esLi habe sich von ihnen abgewandt. Die anhaltende Existenz der Menschheit wird früher oder später den mystischen Kreis aus innerem und äußerem Frieden zerbrechen lassen und damit auch die Zor selbst vernichten. Diese Erkenntnis treibt die Zor dazu an, gegenüber den Menschen solch exzessive Gewalt anzuwenden. Daher muss genau dieser Punkt angesprochen werden.
Textende
Marais’ gründliche Analyse umfasste auch ein Kompendium über die Kultur und die Gesellschaft der Zor. Der Admiral wusste über das Thema offensichtlich gut Bescheid, immerhin hatte er dem Vernehmen nach kurz nach dem Vertrag von Las Duhr mehrere Welten der Zor diesseits der Antares-Verwerfung besucht, Informationen gesammelt und die Kultur und Sprache studiert. Zwar war der Text nicht so trocken wie der Stil, den Sergei sonst gewohnt war, doch er musste einräumen, dass es viel Wissenswertes über diesen Feind der Menschheit zu lesen gab.
Wenige Menschen waren überhaupt einmal einem Zor begegnet, in einer Schlacht hatte man noch nie einen von ihnen gefangen nehmen können. Doch Marais war kenntnisreich wie kein Zweiter. Er verwies auf alle bekannten Quellen zum Thema, angefangen bei den ersten Aufzeichnungen der Robotsonden vom Angriff auf Alya bis hin zur letzten Verhandlungsrunde vor dem Vertrag von Efal. Einen besonderen Schwerpunkt legte der Bericht auf die Fülle von Daten, die man von der eingenommenen Basis bei Mustapha hatte sammeln können.
Begleitet wurde der Bericht – natürlich – von Marais’ Buch. Sergei hatte das verdammte Buch zweimal von vorn bis hinten durchgelesen, wobei ihm die Rhetorik und die Ausdrucksweise aufgefallen waren, die ihm fast schon zu gezielt gewählt erschienen waren. Manches davon war eine Tirade gegen den schwachen Willen der Menschheit, anderes dagegen klang durchaus zutreffend. Während die Sonne am westlichen Himmel unterging und sein Wohnzimmer in fahles Licht tauchte, las er noch einmal die Passagen, die er markiert hatte.
»Wir vergessen immer wieder, dass unsere Gegner keine Menschen sind«, hatte Marais geschrieben.
Zor und Menschen sind zwei grundverschiedene Spezies, deren grobe äußere Ähnlichkeiten womöglich purer Zufall oder auch damit zu erklären sind, dass sich beide unter ähnlichen Umweltbedingungen entwickelt haben. Eine solche Ähnlichkeit bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass auch die Denkstrukturen oder Motivationen ähnlich sind.
Es ist ein tödlicher Irrtum, im Kampf gegen die Zor eine Strategie zu entwickeln, ohne deren Sicht des Universums zu berücksichtigen. Wir haben versucht, sie auf unsere Art zu bekämpfen, doch seit sechzig Jahren versagen wir jedes Mal aufs Neue, auch wenn wir Kampf um Kampf gewinnen. So unangenehm es auch sein mag, aber wir müssen endlich anfangen, sie auf ihre Art zu bekämpfen.
Wollte er allen Ernstes Zivilisten bombardieren? Oder wollte er keine weiteren Friedensabkommen mehr schließen?
Sergei konnte sich nicht vorstellen, dass ein solches Handeln bei der Admiralität oder in der Öffentlichkeit auf Gegenliebe stoßen würde. Das wäre so gut wie unmöglich, von einer Auslöschung der gesamten Spezies ganz zu schweigen. Und das war nicht nur unmöglich – das war sogar unvorstellbar.
3. Kapitel
Die gegenwärtige Lancaster war 2292 in Dienst gestellt worden, einem insgesamt sehr guten Jahr für den Raumschiffbau. Sie war eines von neun Kriegsschiffen, die im Lauf des Jahres in den Raumdocks der Mustapha-Werft fertig gestellt wurden. Es herrschte Krieg, man befand
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