Bd. 1 - Die dunkle Schwinge
-wahrnehmen konnte, hatte Chris Boyd seine Waffe gezogen und auf den Torus gerichtet, um das Feuer zu eröffnen. Die Luft ringsum begann orangerot zu leuchten, glühte dann weißlich-blau, bis das Licht zu grell wurde, als dass man noch hinschauen konnte. Boyd feuerte mit geschlossenen Augen weiter, während das Bariton-Geheul eines Zor über die Helmmikrofone übertragen wurde, der vor Schmerz aufschrie und den Namen der Dunklen Schwinge rief.
Die anderen Zor, die von dem Angriff von oben völlig überrascht wurden, starben im nächsten Moment, als die Marines über ihre Schutzschilde sprangen und losfeuerten. Der Sockel und sein Inhalt explodierten. Splitter aus Metall und Stein wirbelten durch den Raum. Erst dann hörte Boyd – taub und blind von Lärm und Licht – auf zu feuern und sank im Luftschacht nieder. Seine Pistole rutschte ihm aus der Hand und schwebte langsam nach unten, bis sie auf dem Deck der Brücke landete und liegen blieb.
Zwischenspiel
Der Hohe Kämmerer Ptal HeU’ur hatte sich nach Kräften bemüht, das Hohe Nest vom Tumult abzuschirmen, der draußen herrschte. Das Kom-Netz war voll von apokalyptischen Ankündigungen und unheilvollen Vorzeichen. Sogar das Sanktuarium hatte für eine Weile die Pforten geschlossen.
Hätte sich der Kämmerer einen Platz vorstellen können, der ruhiger und wenigstens halb so sicher gewesen wäre wie das Hohe Nest in es Yen, der Hauptstadt von Zor’a, dann hätte er den Hohen Lord angewiesen, sich umgehend dorthin zu begeben. Doch einen solchen Ort gab es nicht.
Makra’a HeU’ur war auf die Heimatwelt des Nests, E’rene’e, zurückgekehrt und hatte Ptal zu sich bestellt. Doch der Hohe Kämmerer hatte nicht auf Lord Makra’as Forderung reagiert und stattdessen entschieden, beim Hohen Lord Sse’e zu bleiben. Ptal war kein hirnloser Beamter, doch es bescherte ihm einen gewissen Inneren Frieden, wenn er sich der Arbeit, die sein Amt mit sich brachte, widmen konnte, als sei nichts geschehen.
Nachdem die Meldung von A’anenus Einnahme Zor’a erreicht hatte, ging Ptal früh am Morgen in die Kammer der Einsamkeit, wo er hoffte, sich mit dem Hohen Lord in einer Angelegenheit von geringerer Bedeutung beraten zu können. S’tlin, sein alHyu, setzte ihn davon in Kenntnis, dass der Hohe Lord seit fast zwei Zyklen weder meditiert noch seine Schlafkammer benutzt hatte. Nach einigen Schmeicheleien und schließlich unverhohlenen Drohungen verriet der Diener ihm endlich, dass sich der Hohe Lord in seinem privaten Garten aufhielt. Dieses innere Heiligtum wurde nur selten von anderen betreten, da es der Ort war, an dem Sse’e seinen eigenen Inneren Frieden pflegte. Dennoch fühlte sich Ptal veranlasst hinzugehen, und wenn er nur seiner Sorge um seinen Lord und alten Freund Ausdruck verleihen konnte.
Er fand ihn im esTle’e, jenem kreisrunden zentralen Garten, der sich unmittelbar unter einem fast durchsichtigen Deckenfenster befand. Das zinnoberrote Licht der Sonne schien auf die Wände im Südosten und betonte die sorgfältig gehegte Flora sowie den in Gold emaillierten Kreis, der den esTle’e umgab. Sse’e stand auf der zentralen Stange, die Augen geschlossen, sein hi’chya in den ausgestreckten Händen, die Flügel ausgerichtet zur Pose der Unterwerfung unter den Willen von esLi.
Unsicher, wie er sich ihm bemerkbar machen sollte, stand Ptal HeU’ur ruhig auf einem der gepflegten Wege, bereit, den ganzen Zyklus lang zu warten, bis der Hohe Lord bereit war, mit ihm zu sprechen.
Doch schon einen Moment später öffnete Sse’e die Augen, senkte sein hi’chya, nachdem er die angemessene Ehrerbietung vollzogen hatte, und steckte es weg. Seine Flügel nahmen eine neutrale Haltung ein, und er bedeutete Ptal, zu ihm zu kommen. Als der Hohe Kämmerer sich ihm näherte, sah er in den Augen des anderen dessen Ermüdung und Erschöpfung.
»Ich bitte achttausendmal um Entschuldigung, dass ich Sie störe, Hoher Lord. Mein Anliegen ist nicht dringlich …«
»Es ist nicht von Bedeutung, se Ptal. Kommen Sie her und setzen Sie sich zu mir.«
Der Hohe Kämmerer trat näher und nahm auf einer der unteren Sitzstangen Platz. Mit seinen Flügeln beschrieb er eine höfliche Geste, dann teilte er mit seinem alten Freund einen Hand-über-Hand-Griff.
»Sie brauchen Schlaf, hi Sse’e.«
»Das mag sein. Ich war in letzter Zeit nicht so sehr dazu bereit, aber meine … Bemühungen … haben mir wenig eingebracht.«
»Dann träumen Sie nicht?«
»Nein, ganz im
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