BE (German Edition)
war, denn wir hatten zwar telefoniert, waren uns aber noch nicht persönlich vorgestellt worden. Doch anstatt zuzugeben, dass sie es nicht wusste, sagte sie Bernd, ich sei vom österreichischen Fernsehen aus Wien. Als ich mich dann als Variety -Journalistin vorstellte, dachte er, ich würde protzen und ihn anlügen. Dass Leute ihn anlogen und versuchten, ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu beeindrucken – ich sollte es später hautnah mitbekommen –, kam öfters vor. Deswegen also seine Empörung. Später, so versicherte er, habe er noch nach mir gesucht, aber da sei ich schon weg gewesen.
Den Dreh der großen Massenorgie habe ich also nicht miterlebt. Bernd erzählte, es sei ein unfassbares, an die Grenzen des menschlich Begreifbaren gehendes Erlebnis gewesen, so viel Nacktheit auf einmal zu sehen. Tom hatte darauf bestanden, die Szene monatelang proben zu lassen. Anfangs war es nur eine kleine Tanzgruppe von dreißig Leuten, die die Bewegungen einstudierte. Diese Gruppe wurde dann immer mehr erweitert, bis sich zum Schluss etwa 800 Komparsen auf dem Marktplatz befanden. Eine Woche lang wurde an dieser Szene gedreht. Mit acht Kameras, zwei Steady-Cams und zwei Kränen. Tom stellte eine Mischung aus Klassik und Filmmusik zusammen, die die Menschen in die unterschiedlichen Stimmungen bringen sollte. Gleichzeitig bekamen sie Anweisungen per Lautsprecher, denn alle Komparsen mussten ja die Metamorphose von Wut zur Sinnlichkeit bis hin zur Liebe durchleben, weil sie irgendwann alle unter dem Einfluss des Parfums stehen. Aus den Mitwirkenden dieser Massenorgienszene, die einzigartig ist in der Filmgeschichte und es wohl auch immer bleiben wird, ist eine verschworene Gemeinschaft geworden. Sie treffen sich jedes Jahr einmal, schauen sich den Film an und feiern ein großes Wiedersehen. Kino ist eben auch, was jenseits der Leinwand stattfindet.
»Das Parfum« war ein von Euphorie getragener Dreh. Die einzige Ausnahme bildete dabei der kleine Hund der von Jessica Schwarz gespielten Hure. Ein dramaturgisch sehr wichtiges Element, denn der Hund führt durch seinen Geruchssinn schließlich zur Entlarvung Grenouilles als Mörder. Wie viele andere Regisseure ist auch Tom Tykwer kein großer Freund von Tieren am Set. Kinder und Tiere machen die meisten Regisseure nervös. Ein deutscher Hund war gecastet worden, von dem es hieß, er beherrsche jedes Kunststück aus der Hundetrickkiste. »Der Hund war ein Desaster. Der hat nicht mal auf ›Sitz!‹ reagiert. Jessica Schwarz sollte in der Szene nackt auf dem Bett sitzen. Und was macht der Köter? Er pinkelt ins Bett, gleich im ersten Take! Dabei hatte der im Bett gar nichts zu suchen! Und dann saß die arme Jessica auf dem nassen Laken … ich bin so ausgeflippt, ich dachte, ich bringe das Tier um. Nein, natürlich den Hundetrainer!«
Tom, klassisch verzweifelter Regisseur, rief Bernd an. Und nun erwies sich nicht nur, was ein echter Produzent können muss, sondern es zeigte sich auch, dass er vor mehr als dreißig Jahren als Praktikant bei der Bavaria während der Dreharbeiten zu »Cabaret« etwas Wichtiges gelernt hatte: »Wenn in großer Not, dann ruf Hollywood an!« Bernd besorgte einen echten Hollywoodhund, der mit seinen zwei Betreuerinnen in der ersten Klasse eingeflogen wurde. »Egal, wie viel das kostet, das Geld muss jetzt rausgehauen werden!«, so Bernd. Zu diesem Zeitpunkt wusste er nur zu gut, dass Tom nur dann Alarm schlug, wenn es wirklich wichtig war. Und dieser Hund war es ganz offensichtlich.
Variety veröffentliche 2006 zum ersten Mal eine tägliche Berlinale-Ausgabe. Während der Filmfestspiele in Cannes ist es üblich, dass Variety ein solches »Festival Daily« herausbringt. Da die Berlinale an Bedeutung auch in wirtschaftlicher Hinsicht zugenommen hatte, wollten wir es 2006 nun auch in Berlin wagen. Bernds Produktion »Elementarteilchen«, die auf Michel Houellebecqs gleichnamigem Roman beruhte und bei der Oskar Roehler Regie geführt hatte, war der Eröffnungsfilm der Festspiele. Ich hatte schon einiges über den Film gehört: Bernd und Oskar Roehler hatten sich zwar blendend verstanden, es habe aber auch einige Unstimmigkeiten gegeben. Bernd hatte Oskar Roehler das Projekt angeboten, weil er dessen Film »Die Unberührbare« für grandios hielt. Während der Drehbuchentwicklung hatte Oskar Roehler allerdings die Idee, zwischendurch mal kurz einen Film zu machen, in dem es um drei Brüder geht, von denen der eine – Wunder oh Wunder –
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